Erwachsene mit geringen Grundkompetenzen – zwischen Anpassung und eigensinnigem Lernweg
Erwachsene mit geringen Grundkompetenzen nehmen vergleichsweise selten an Weiterbildung teil. Ergebnisse aus dem Projekt Lebenswelten zeigen: Neben objektiven Hürden wie fehlende Zeit oder mangelnde Ressourcen prägen negative Lernerfahrungen, Stigmatisierung und normativer Anpassungsdruck die Entscheidung zur Nicht-Teilnahme. Die Betroffenen befinden sich in einer defensiven Haltung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen und erleben Weiterbildung eher als Zumutung statt als Chance. Zugleich bestehen Wünsche nach expansiven Lernmöglichkeiten, die Handlungsspielräume erweitern und an Alltagsinteressen anknüpfen. Damit stellt sich die Frage, wie Angebote gestaltet werden müssten, um den Übergang von einer defensiven Haltung hin zu expansivem Lernen zu ermöglichen.
1 Nicht-Teilnahme an Weiterbildung trotz Erfahrungen von Teilhabeausschlüssen und Vulnerabilität
International und auch in der Schweiz weist ein grosser Teil der erwachsenen Bevölkerung nur geringe Grundkompetenzen auf (Bundesamt für Statistik, 2024; OECD, 2025). Grundkompetenzen sind grundlegende Kompetenzen, die Menschen befähigen, aktiv am gesellschaftlichen, beruflichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Dazu zählen unter anderem Kompetenzen in Lesen und Schreiben, mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer Landessprache, Grundkenntnisse in Alltagsmathematik sowie der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).
Menschen mit geringen Grundkompetenzen sehen sich immer wieder Teilhabeausschlüssen und Vulnerabilitäten gegenüber, die eine Partizipation erschweren und die Anfälligkeit für soziale Risiken wie beispielsweise Armut erhöhen. Empirisch hat sich gezeigt, dass Personen mit geringen Grundkompetenzen ein höheres Risiko haben, von sozialer Isolation, Arbeitslosigkeit, Armut oder prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen zu sein (Stammer & Buddeberg, 2020; Mey et al., 2023; Pape, 2018). Zudem werden schriftsprachliche Kompetenzen als notwendig erachtet, um individuelle Verwirklichungschancen zu realisieren (Egloff & Grotlüschen, 2011). Auch auf politischer Ebene wird dieser Zusammenhang zwischen Grundkompetenzen und sozialer Teilhabe zunehmend anerkannt (IGG, 2019).
Teilhabeausschlüsse und Vulnerabilitäten rühren einerseits von funktionalen Einschränkungen im Umgang mit Grundkompetenzen her, sie sind andererseits aber auch gesellschaftlichen Erwartungen und normativen Vorstellungen von Literalität geschuldet. Die «New Literacy Studies» (Street, 2003; 1995) machen darauf aufmerksam, dass Literalität nicht nur als soziale Praxis verstanden werden kann, sondern dass darüber hinaus sogenannte Mehrheitsliteralitäten dominante Literalitäten darstellen. Als gesellschaftliche Norm reflektieren sie gesellschaftliche Machtverhältnisse und legitimieren spezifische Formen der Literalität, während sie andere marginalisieren (Pape, 2021). Dominante Literalität im Sinne «legitimer» Literalität hat damit eine normative Ausgrenzungskraft, wobei eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm bezüglich Grundkompetenzen unmittelbar zu Nachteilen führt (Grotlüschen et al., 2009).
Die Macht der dominanten Literalität äussert sich im beruflichen Kontext beispielsweise darin, dass sie oftmals Voraussetzung für Beschäftigungsfähigkeit ist (Grotlüschen & Riekmann, 2012; OECD, 2016). Im privaten Bereich zeigt sie sich als Erwartung, mit digitalisierten Alltagsprozessen oder mit Verwaltung, Versicherungen und Banken umgehen zu können. Die mit dominanter Literalität verbundenen Erwartungen entfalten durch einen mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Anpassungsdruck damit eine normative und emotionale Wirkung. Vulnerabilität durch geringe Grundkompetenzen kann damit auch als Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen und Anforderungen verstanden werden.
Trotz des gesellschaftlichen Drucks zur Anpassung an die dominante Literalität und der damit verbundenen Vulnerabilitäten versuchen Personen mit geringen Grundkompetenzen nur selten, diese Kompetenzen durch Weiterbildung zu verbessern oder zu erhalten. Gemäss den internationalen Erhebungen im Rahmen von PIAAC nehmen Erwachsene mit den niedrigsten Lese- und Schreibfähigkeiten (Stufe 1 und darunter) am seltensten an Weiterbildung teil, während diejenigen mit den höchsten Lese- und Schreibfähigkeiten (Stufe 4 und darüber) am häufigsten teilnehmen (OECD, 2025). Dieser Zusammenhang ist auch für die Schweiz sichtbar (BFS, 2025).
Die Gründe für den Entscheid zur Nicht-Teilnahme sind vielfältig. Einerseits bestehen objektive Hürden wie zum Beispiel mangelnde Sprachkenntnisse, Zeitmangel, Unkenntnis des Angebots oder knappe finanzielle Ressourcen (Grotlüschen & Buddeberg, 2023). Andererseits zeigen sich sogenannte subjektive Erklärungsmuster (Reich-Claassen, 2010), die auf persönliche Bewertungen von Nutzen und Zumutbarkeit von Lernprozessen beruhen. Sie sind von biografischen Erfahrungen sowie Vorerfahrungen mit Lernen geprägt. Solche Erfahrungen führen nicht selten zu einem «begründeten Desinteresse» (Grotlüschen, 2010), individuellem Lernwiderstand (Faulstich und Grell, 2003) oder zu einem gesellschaftlich bedingten Weiterbildungswiderstand (Holzer, 2017), der als bewusste Abwehr gegenüber normativen Erwartungen verstanden werden kann. Nichtteilnahme ist daher oft Ausdruck einer defensiv begründeten Haltung zum Lernen, in der eine Teilnahme nicht als sinnvolle Option, sondern als Belastung oder Zumutung interpretiert wird.
Während objektive Hürden für eine Nicht-Teilnahme wie finanzielle oder zeitliche Einschränkungen gut dokumentiert sind, ist weniger über subjektive Begründungen bekannt. Kaum erforscht ist bisher, wie das persönliche Erleben von gesellschaftlichen Erwartungen an Grundkompetenzen und daraus entstehende Widerstände zur Nichtteilnahme führen. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern unter diesen Bedingungen expansives Lernen – also ein Lernen, das über Defizitkompensation hinausgeht und auf die Erweiterung von Handlungsspielräumen und die aktive Gestaltung des eigenen Lebens abzielt – überhaupt möglich wird.
2 Subjektive Perspektiven im Fokus: Das Projekt Lebenswelten
Der vorliegende Beitrag knüpft an die Ergebnisse des vom SVEB (Schweizerischer Verband für Weiterbildung) durchgeführten Projektes «Lebenswelten» an (Buchs & Weber, 2025). Angelehnt an eine subjektwissenschaftliche Perspektive legt der Beitrag den Fokus auf expansive Lernbedürfnisse und Weiterbildungspotentiale von Personen mit geringen Grundkompetenzen im Kontext einer defensiven Positionierung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen.
Das Projekt «Lebenswelten» zielte darauf ab, das Wissen über die Sichtweisen von Menschen mit geringen Grundkompetenzen, die nicht an Weiterbildung teilnehmen, zu verbessern und mehr über ihre Bedürfnisse zu erfahren. Ebenfalls erarbeitet wurden Grundlagen für Akteure im Bereich Grundkompetenzen (Weiterbildungsanbieter, Förderstrukturen) bei der Ansprache, beim Erreichen der Zielgruppen und für die Ausgestaltung von Angeboten.
Das Projekt arbeitete mit Methoden der qualitativen Sozialforschung. Mittels teilnarrativer, leitfadengestützter Interviews mit 20 Erwachsenen wurden deren subjektive Sichtweisen erhoben. Zielpersonen waren Erwachsene, die über geringe Grundkompetenzen verfügen und in den letzten Jahren nicht an Weiterbildung teilgenommen haben. Sie wurden anhand verschiedener Merkmale für die Interviews ausgewählt, um eine möglichst hohe Variation und inhaltliche Repräsentativität zu erreichen. Ein wichtiges Kriterium war, ob die Personen die obligatorische Grundschule mehrheitlich in der Schweiz absolviert oder ihre Kindheit und Jugend im Ausland verbracht hatten. Weitere Kriterien waren beispielsweise der höchste Bildungsabschluss, das Geschlecht, mögliche Formen einer institutionellen Anbindung (z.B. Sozialhilfe) oder das Alter.
Die Interviews drehten sich insbesondere um die Biografie, den Alltag und den Umgang mit Situationen, die Grundkompetenzen erfordern. Da eine Teilnahme an Angeboten zur Verbesserung der Grundkompetenzen aus Sicht der Interviewten oft keine Option darstellte, wurden die Interviewpersonen nur bei entsprechenden Erzählungen genauer nach Gründen für eine Nicht-Teilnahme gefragt.
Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte entlang dreier Analyseperspektiven: dem Erleben von Anforderungen und Erwartungen an Grundkompetenzen und somit der dominanten Literalität, den individuellen Strategien im Umgang mit Anforderungen und den Lebenssituationen als Rahmenbedingungen für Bildungsteilhabe. Gründe für eine Nicht-Teilnahme wurden mehrheitlich analytisch aus den Ergebnissen herausgearbeitet. Darauf aufbauend leiteten die Autorinnen auch Ansätze für die Weiterbildung ab, die bei Ansprache und Angebotsgestaltung den herausgearbeiteten Gründen für eine Nicht-Teilnahme möglichst Rechnung tragen.
3 Eine defensive Positionierung gegenüber normativen Erwartungen
Die Projektergebnisse verweisen darauf, dass Personen mit geringen Grundkompetenzen gesellschaftliche Erwartungen an die Beherrschung von Grundkompetenzen deutlich wahrnehmen. Wie sie diese Erwartungen subjektiv erleben und was der dabei oft wahrgenommene Druck für sie bedeutet, wird in unterschiedlichen Erzählkontexten deutlich. So beispielsweise im Rahmen von als herausfordernd oder abwertend wahrgenommenen Erfahrungen mit Grundkompetenzen im Alltag oder problematischen Lernerfahrungen – zumeist gemacht im Kontext Schule –, die mit Grundkompetenzen in Verbindung stehen.
Diese negativen Erfahrungen entstehen in unterschiedlichen Situationen – etwa wenn sich Personen mit geringen Grundkompetenzen mit etwas schwertun, ihre Leistungen ihrer eigenen Einschätzung nach relativ schlecht sind, sie etwas nicht gerne machen, ihnen kein Verständnis für ihre geringen Grundkompetenzen entgegengebracht wird und sie nicht unterstützt werden, sondern sich – im Gegenteil – Unverständnis und Hänseleien gegenübersehen. Die Betroffenen erleben diese Momente als besonders schwierig, als nicht überwindbar und verbinden damit grossen Stress. Als besonders belastend nehmen die interviewten Personen Situationen wahr, in denen sie einer besonderen Aufmerksamkeit ausgesetzt sind und ihnen bewusst ist, «[andere] schauen mir zu» (106_Transkript, 292–293). Solche Situationen bezeichnen sie als «Höchststrafe» (104_Transkript, 635) und verbinden sie mit «Angst» (106_Transkript, 285), weil sie damit rechnen oder im Voraus bereits wissen, die Erwartungen anderer nicht erfüllen zu können, ihnen nicht gerecht zu werden und womöglich kritisiert und/oder ausgeschlossen zu werden.
Die negativen Wahrnehmungen gründen unter anderem in Fremdzuschreibungen, die teilweise über die geringen Grundkompetenzen hinausreichen und degradierend wirken. So erzählen die interviewten Personen davon, dass andere aufgrund ihrer geringen Grundkompetenzen «haben […] lachen müssen» (105_Transkript, 263–264), sie «ein bisschen für blöd halten» (106_Transkript, 137) und ihnen Vorwürfe machen wie «du kannst nichts» (105_Transkript, 199). Einige Interviewte berichten davon, dass solche negativen Fremdzuschreibungen auch zu einem «minimale[n] Selbstwertgefühl» (106_Transkript, 148–149) führten und dazu, dass man «nie eine Entwicklung gehabt habe zu einem Selbstbewusstsein» (102_Transkript, 185–186).
Für ihre Lage werden die Betroffenen gemäss ihren Erzählungen dabei meist selbst verantwortlich gemacht. Entsprechend wird erwartet, dass sie durch ein verändertes Verhalten und vor allem durch Anstrengung ihre Situation beziehungsweise ihre Grundkompetenzen verbessern können und dies auch tun sollen. Menschen mit geringen Grundkompetenzen sehen sich demnach immer wieder mit Aussagen konfrontiert wie «du musst halt besser aufpassen oder konzentriere dich ein bisschen mehr» (106_Transkript, 162–163) oder «musst lernen Deutsch. Und immer sie sagen, für mich muss lernen Deutsch» (101_Transkript, 131–132). Gleichzeitig wird ihnen allerdings oft nur ein begrenztes bis kein Potenzial zugeschrieben, bestimmte Dinge wie eine Ausbildung oder einen von ihnen angestrebten Beruf erreichen zu können.
Diese Reaktionen des Umfelds spielen eine besonders zentrale Rolle für das Erleben und Einordnen im Kontext von Grundkompetenzen und spiegeln sich in negativen Selbstzuschreibungen. Das heisst, Personen, die in ihrer Vergangenheit mit negativen Erfahrungen beim Erlernen und der Nutzung von Grundkompetenzen konfrontiert waren, bewerten ihre eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten eher kritisch und heben oftmals ihre Schwächen hervor. Ihre Beschreibungen reichen dabei von «kann ich gerade so ein bisschen» (106_Transkript, 180) oder «ich bin keine […] Expertin» (204_Transkript_DE, 235–237) bis hin zu «ich bin die volle Katastrophe» (113_Transkript, 394–395). Geringe Grundkompetenzen beschreiben die Interviewten selbst als «Manko» (106_Transkript, 42), als «Defizite» (115_Transkript, 772) und als das «einzige Schlechte von [ihrem] Leben» (107_Transkript, 199–200), die ihnen den Alltag deutlich erschweren.
Das Gefühl, gesellschaftlichen Anforderungen nicht zu genügen, kann sich durch eine mit Belastungen und Einschränkungen verbundene Lebenssituation verstärken. Faktoren, die bei vielen, jedoch nicht allen interviewten Personen eine Rolle spielen, sind gesundheitliche Einschränkungen (psychische oder körperliche), geringe finanzielle und zeitliche Ressourcen, Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, instabile Erwerbsverläufe oder als negativ empfundene Erfahrungen mit Institutionen und Behörden. Sie können einerseits Folge von geringen Grundkompetenzen sein, beeinflussen aber andererseits auch die Ressourcen zur Verbesserung der Grundkompetenzen beziehungsweise zur Teilnahme an entsprechenden Angeboten. Dieser Mangel an Ressourcen verschärft wiederum die Diskrepanz zwischen dem, «was sein soll», und dem, «was (möglich) ist», und kann dazu führen, dass Bildung statt als «Lösung» eher als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird.
Folgen für die Betroffenen
Was bedeuten dieses Wahrnehmen und Erleben der dominanten Literalität und des damit verbundenen wahrgenommenen Drucks nun für die Betroffenen? Negative Vorerfahrungen in und mit Lernkontexten führen teilweise zu Skepsis gegenüber strukturierten Lernsettings, die als potenziell autonomiegefährdend wahrgenommen werden – klassische Bildungsformate wie beispielsweise Kurse werden folglich eher abgelehnt. Darüber hinaus schwächen die erfahrene Stigmatisierung, verinnerlichte Defizitzuschreibungen und ein internalisiertes «Nicht-Genügen» das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit.
Eine Folge davon ist, dass nicht unbedingt gelernt und sich damit unter Umständen nicht für ein Bildungsangebot entschieden wird, sondern (auch) nach anderen Wegen gesucht wird, trotz geringer Grundkompetenzen den Alltag bewältigen zu können. Beispiele dafür sind die Inanspruchnahme von Hilfe durch Freunde oder Verwandte, die Vermeidung oder das Umgehen bestimmter Situationen, das Akzeptieren geringer Grundkompetenzen oder das Infragestellen gesellschaftlicher Erwartungen und Normen. Obwohl diese Strategien weitgehend funktionieren, ist die Bewältigung des Alltags mit grossem Aufwand und hoher emotionaler Belastung verbunden. Auftretende Probleme werden nur vorübergehend behoben und die geringen Grundkompetenzen nur kurzfristig kompensiert. Eine langfristige und nachhaltige Erweiterung der eigenen Kompetenzen und Handlungsfähigkeiten findet in diesem Fall kaum statt.
Auch wenn Skepsis und Hemmnisse gegenüber dem Lernen bestehen, stellen für einige der Interviewten zusätzliche Anstrengungen, häufig in Form von Lernbemühungen, eine weitere Möglichkeit dar, auf Herausforderungen infolge geringer Grundkompetenzen zu reagieren. Denn diese Personen nehmen den hohen Stellenwert von Grundkompetenzen durchaus wahr und wollen Probleme im Zusammenhang mit dem Nicht-Verfügen über diese Kompetenzen längerfristig überwinden. Sie zeigen eine grundsätzliche Bereitschaft, ihre Grundkompetenzen zu verbessern, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Nicht zuletzt dadurch sehen sie nämlich eine Chance, dass sich ihnen neue Möglichkeiten eröffnen und sich «Wünsche erfüllen lassen». So berichten einige der Interviewten beispielsweise vom Wunsch, dank besserer Grundkompetenzen überhaupt erst eine Arbeit zu erhalten: «Ich hätte einen Job, ich hätte den Lohn, ich hätte keine Schulden, ich hätte / Ja. So quasi wie ein Leben» (102_Transkript, 961–962). Andere möchten gerne «[eine] Ausbildung absolvieren» (110_Transkript, 323–324), eine «richtige Arbeit [suchen]» (101_Transkript, 525) und «nicht mit Sozial[hilfe] bleiben» (ebd., 528), «einen guten Job [finden]» (204_Transkript, 27) oder sie setzen sich zum Ziel, selbständig zu werden: «Mein Ziel ist nicht, ganze Zeit dort arbeiten. Das Ziel ist, dass ich irgendwann eigene Geschäfte mache, selbständig. Und das ist mein Ziel» (112_Transkript, 274–276).
Insofern wird Lernen trotz negativer Erfahrungen und geringer Potentialzuschreibung grundsätzlich als positiv bewertet, vorausgesetzt, es entspricht bestimmten Bedürfnissen. So soll es beispielsweise nicht abstrakt stattfinden, sondern sich an konkreten Erfahrungs-/Lebenssituationen und Zielen orientieren, entsprechend anschlussfähig und eher im Bereich des informellen und vor allem alltagsbezogenen Lernens sein.
4 Von einer defensiven Positionierung zu expansivem Lernen
Abschliessend lässt sich festhalten, dass sich Menschen mit geringen Grundkompetenzen in einem Spannungsfeld zwischen einer defensiven Positionierung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen und dem Bedürfnis nach einer Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit bewegen. Durch das Nicht-Erfüllen gesellschaftlicher Erwartungen an Grundkompetenzen machen viele von ihnen negative Erfahrungen und sehen sich mit Stigmatisierungen und grundsätzlicher Infragestellung ihrer Lernfähigkeit konfrontiert. Dies kann zu Rückzug, Lernwiderstand oder Resignation führen. Lernhandlungen werden dann nicht als subjektiv sinnvolle und lohnende Möglichkeit angesehen, um auf Problemsituationen zu reagieren, sondern werden teilweise abgelehnt. Gleichzeitig wünschen sich und bräuchten die Betroffenen expansive Lernerlebnisse, die es ihnen ermöglichen, ihre Grundkompetenzen und damit ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern und Vulnerabilitäten zu reduzieren.
Daraus ergibt sich die Frage, wie Lernangebote gestaltet sein müssten, damit sie eine Bewegung von dieser defensiven Positionierung hin zu expansiven Lernprozessen ermöglichen. Die Ergebnisse der Studie liefern Hinweise darauf, dass solche Bewegungen dann eher gelingen können, wenn das Lernen an den Alltag, die Erfahrungen und die Interessen der Menschen anknüpft. Denn die Interviews haben gezeigt, dass Personen mit geringen Grundkompetenzen sich gegenüber Erwartungen und Anforderungen nicht gerne defensiv positionieren, sondern konkrete Hilfestellungen für die Bewältigung des Alltags bevorzugen. Nicht abstrakte Bildungsziele, sondern Alltagsherausforderungen und subjektiv wahrgenommene Relevanz schaffen damit die Grundlage für Lernbereitschaft. Angebote, die im Alltag auftretende Handlungsproblematiken, etwa im Kontext von Arbeit, Familie oder Gesundheit, aufgreifen, erscheinen damit anschlussfähiger und sinnstiftender als beispielsweise reine Lese- und Schreibkurse. Auch betriebliche Kontexte oder unterstützende Settings im familiären Umfeld könnten Türöffner für Lernprozesse sein.
Weiter deuten die Ergebnisse darauf hin, dass einer Ansprache ohne Defizitzuschreibung sowie der Anerkennung von Potentialen eine zentrale Rolle zukommt. Denn Personen mit geringen Grundkompetenzen sind sich in der Regel darüber im Klaren, dass es wichtig wäre, gut lesen, schreiben, sprechen oder rechnen zu können. Es muss ihnen also nicht erklärt werden, dass sie hier ein Defizit haben und ihre Grundkompetenzen verbessern sollten. Hinzu kommt, dass Bildung und Lernen für die Zielgruppe oft polarisierende Begriffe sind, die kaum Motivationen wecken (Leck et al., 2025). Dies bedeutet, dass generelle und normative Verweise auf Lernen oder Bildung kaum Erfolg haben werden. Um die potenzielle Distanz zwischen Bildungsinstitutionen und Nicht-Teilnehmenden zu überwinden, könnte es folglich hilfreich sein, sich nicht nur an den Interessen, sondern auch an der «Sprache» der Zielgruppe zu orientieren. Dies heisst für Anbieter und Förderstrukturen, dass sie versuchen, die Zielgruppen zu verstehen und einzubeziehen, indem sie beispielsweise Angebote nicht nur für, sondern mit den potenziellen Teilnehmenden gestalten. Bestenfalls geht diese Einbindung über ein blosses Abholen von Bedürfnissen hinaus und betrifft den gesamten Planungs- und Lernprozess. Indem durch eine solche Vorgehensweise auch individuelle Formen von Literalität anerkannt werden, können auch «eigensinnige» Lernwege (Holzkamp, 1993) sowie ein Gefühl der Selbstwirksamkeit gefördert werden.
Angesichts der Vielfalt der Bedürfnisse und Lernbedarfe der Personen mit geringen Grundkompetenzen, die in den Interviews deutlich erkennbar ist, erscheint es weiter wichtig, dass die Angebote ebenfalls möglichst vielfältig sind. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion auf spezifische Lernbedürfnisse. Denn Menschen mit geringen Grundkompetenzen sehen sich (insbesondere im Bereich Sprache) mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen konfrontiert. Während Personen mit Migrationshintergrund eine entsprechende Landessprache beispielsweise aufgrund kurzer Aufenthaltsdauer einfach (noch) nicht ausreichend beherrschen, sind geringe schriftsprachliche Kompetenzen bei Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern oft durch (diagnostizierte) Schreib- und Leseschwächen (z.B. Legasthenie) oder Lernschwierigkeiten begründet. Gerade Letztere tragen dazu bei, dass Weiterbildungsangebote, die diese nicht berücksichtigen, als wenig sinnvoll wahrgenommen werden. Der Zugang zu spezialisierten Angeboten für Erwachsene ist jedoch nach wie vor begrenzt, da bestehende Unterstützungsstrukturen oft auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet sind. Eine gezielte Weiterentwicklung entsprechender Angebote könnte hier somit einen wichtigen Beitrag leisten.
Insgesamt erfordert expansives Lernen im Sinne lebensentfaltender Bildung ein Verständnis von Lernen, das über Anpassung hinausgeht. Es geht nicht ausschliesslich darum, Menschen mit geringen Grundkompetenzen an die Norm der dominanten Literalität hinzuführen, sondern vor allem auch darum, ihnen Wege zu eröffnen, ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und ihre Lebensinteressen zu verfolgen. Dazu gehört, Lernen nicht primär als eine Reaktion auf Defizite zu begreifen, sondern als eine Möglichkeit, auf selbst wahrgenommene Herausforderungen und Interessen zu antworten.
Über die Gestaltung der Weiterbildungslandschaft hinaus stellt sich damit eine grundsätzliche gesellschaftliche Frage: Welche Aufgaben kommen der Weiterbildung überhaupt zu? Wird sie primär als Mittel verstanden, damit sich Individuen an vorgegebene Normen und Anforderungen anpassen – oder sollten bestehende Erwartungen möglicherweise kritisch hinterfragt und neu verhandelt werden?
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