Geschichten des expansiven Lernens: Einblicke in Lernerfahrungen von Ausbildenden
Beim Gelingen expansiver Lernprozesse spielen das Subjekt und seine Lebensinteressen eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund richtet der Beitrag den Blick auf subjektive Sichtweisen: Ausbildende, Coaches und Beratende reflektieren ihre eigenen expansiven Lernerfahrungen und deren individuelle Bedeutsamkeit, Wirkungen sowie Einflüsse auf ihr privates und professionelles Handeln. Die dabei entstandenen Geschichten machen Lernen als lebensnahen Prozess sichtbar und laden dazu ein, ein tieferes Verständnis expansiver Lernprozesse zu fördern und Impulse für die Erwachsenen- und Weiterbildung zu gewinnen.
Ausgehend von der subjektorientierten Theorie Holzkamps wird expansives Lernen möglich und wahrscheinlich, wenn Lernanlässe mit je individuellen Lebensinteressen verknüpft werden und dadurch eine subjektive Bedeutsamkeit erhalten. Lernende handeln dann in der Erwartung, ihre Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und so die Lebensqualität zu erhöhen (Holzkamp, 1995). Das Subjekt und seine Interessen nehmen damit eine entscheidende Rolle beim Gelingen von expansiven Lernprozessen ein. Denn wie Haberzeth in diesem Band anschaulich beschreibt, kommt expansives Lernen nicht zustande beziehungsweise laufen Vermittlungsbemühungen in der Bildungsarbeit ins Leere, wenn Lernende – oder mögliche Teilnehmende – Lernthemen nicht mit Lebensinteressen verbinden können und nicht bereit sind, «sie bewusst und aktiv als Lernaufgaben an[zu]nehmen» (Haberzeth, 2025, S. 19).
Um menschliches Lernen besser zu verstehen – eine Kernaufgabe der Erwachsenen- und Weiterbildung – und daraus Denkanstösse zur Förderung expansiven Lernens (z.B. im Rahmen von Weiterbildungsangeboten) zu gewinnen, richtet sich der Blick im vorliegenden Beitrag auf subjektive Sichtweisen. Veranschaulicht werden individuelle Anlässe, Bedeutsamkeiten und Wirkungen expansiver Lernerlebnisse, jeweils eingebettet in einen bestimmten Arbeits- und Lebensalltag. Dies in Form von Reflexionen von Personen, die nicht nur Lernende sind, sondern auch Lernaktivitäten für Erwachsene durchführen. Ziel des Beitrags ist es, über die Selbstreflexion der Lehrenden hinaus auch das Verständnis und das Bewusstsein für expansive Lernprozesse bei Teilnehmenden anzuregen.
Zu diesem Zweck hat die Redaktion zehn Ausbilderinnen, Coaches, Berater oder andere Personen, die Lernaktivitäten für Erwachsene durchführen, nach ihren eigenen expansiven Lernerfahrungen gefragt – genauer: nach Lernerfahrungen, die ihre Denk- und Handlungsmöglichkeiten mit Blick auf ihre Lebensinteressen erweiterten, was solche in ihrem Leben bewirkten und wie diese ihr professionelles Handeln beeinflussen. Wichtig war uns dabei, individuelle Reflexionen über das eigene Lernen einzufangen, sodass Lernen nicht als abstraktes Konstrukt, sondern als persönlicher, lebensnaher Prozess sichtbar wird. Aus den dazu schriftlich festgehaltenen Gedanken und Erfahrungen sind zehn höchst unterschiedliche Geschichten expansiven Lernens entstanden. Darin werden individuelle Verständnisse von expansivem Lernen erkennbar, Beispiele für subjektiv bedeutsame Lernthemen und die Wirkungen expansiver Lernprozesse – sowohl im privaten als auch im professionellen Handeln. Die Geschichten laden dazu ein, Lernen durch die Augen derjenigen zu betrachten, die es täglich begleiten und selbst immer wieder neu erfahren. Sie regen dazu an, die eigene Lernbiografie bewusst wahrzunehmen und weiterzuschreiben und eröffnen bereichernde Einblicke in die Vielfalt expansiver Lernerfahrungen.
Durch Sprache verstehen
Wenn ich an meinen schulischen Werdegang denke, wird mir bewusst, dass ich in der Vergangenheit viel Zeit mit dem Konsumieren und Aneignen von Wissen verbrachte. Es fühlte sich aber immer so an, als hätte ich dabei nicht wirklich viel gelernt. Vieles wurde nur in meinem Kurzzeitgedächtnis gespeichert, um beispielsweise eine erforderliche Prüfung zu bestehen. Oder ich stellte beim Versuch, das Gelernte anzuwenden, fest, dass ich es nicht vertieft verstanden hatte, weil ein konkreter Bezug fehlte. Vor allem das Lernen theoretischer Konzepte oder Themen, die für mich bedeutungslos erschienen, ist mir immer schon schwergefallen. Das Gefühl, etwas wirklich gelernt zu haben, kam meist erst in der wiederholten praktischen Anwendung auf, oder auch in dem Moment, in dem ich etwas aus tiefem Interesse und ohne vorgängige Überlegungen zu beruflichen Chancen lernen wollte.
Nachdem ich mit meinem betriebswirtschaftlichen Hintergrund mehrere Jahre im Produktemarketing eines globalen Konzerns tätig war, suchte ich eine grosse Veränderung und zog nach Südostasien, um dort in der Hotellerie und der humanitären Hilfe zu arbeiten. Nach eineinhalb Jahren im Süden Thailands verbrachte ich ein Jahr in Kambodscha bei einer NGO, und kehrte dann mit einem neuen beruflichen Ziel wieder zurück nach Thailand. In Bangkok absolvierte ich eine Weiterbildung zur Englischsprachkursleiterin für Erwachsene und war anschliessend für mehrere Jahre bei einer amerikanischen Sprachschule tätig. Während meiner gesamten Zeit in Südostasien war das Lernen der lokalen Sprache keine Notwendigkeit, um dort zu leben und zu arbeiten. Trotzdem wollte ich mir Basiskenntnisse aneignen, um die Kultur meiner neuen Wahlheimat sowie die Bedürfnisse meiner mehrheitlich thailändischen Kursteilnehmenden besser zu verstehen. Auch hatte ich den Wunsch, mit Einheimischen in ihrer Landessprache kommunizieren zu können.
Einen formalen Sprachkurs habe ich aus unterschiedlichen Gründen nie besucht. Dank dem Austausch mit thailändischen Arbeitskolleg*innen und Kursteilnehmenden, Freunden und dem Erleben von Alltagssituationen, wie mit dem Taxi fahren, einkaufen auf dem Markt oder mit der Hausverwaltung sprechen, konnte ich mir grundlegende Kenntnisse in der mündlichen Kommunikation aneignen. Dieses informelle Lernen hat mehrheitlich bewusst, teilweise auch unbewusst stattgefunden und sich als grosse Bereicherung meines Lebens in Thailand erwiesen. Die Möglichkeit auf Thai zu kommunizieren, führte zu mehr Kontakt mit Menschen und einer besseren Integration sowie Zufriedenheit im fremden Land. Ebenfalls wuchs mit dem Verständnis der Struktur der Sprache das Verständnis für meine Lernenden bzw. für ihre Bedürfnisse im Englischunterricht. Ich verstand plötzlich, warum alle immer dieselben Fehler machten oder sich mit gewissen Grammatikregeln oder der Aussprache spezifischer Wörter schwertaten. Seither habe ich auch generell mehr Offenheit und Interesse für andere Sprachen und Kulturen entwickelt.
Eine weitere Erfahrung mit expansivem Lernen machte ich ebenfalls während meiner Zeit in Thailand. Beeinflusst durch meine kurzzeitige Tätigkeit in der Hotellerie und in der humanitären Hilfe, die starke Präsenz der Tourismusbranche in Südostasien und durch meine Leidenschaft fürs Reisen, entwickelte ich grosses Interesse am Thema des nachhaltigen Tourismus. Ich besuchte deshalb über mehrere Monate einen Online-Kurs in Sustainable Tourism Development. Diese Lernerfahrung hat mir einerseits dabei geholfen, meine Fähigkeit der Reflexion zu stärken. Andererseits hat sie mich für ein nachhaltigeres Denken und Handeln in Bezug auf Reisen sensibilisiert. Infolgedessen habe ich Orte und Nachhaltigkeitsprojekte kennengelernt, die sehr bereichernd waren und auch nachhaltiges Handeln in meinem Alltag inspirieren.
In jüngster Zeit habe ich mich für eine Weiterbildung im beruflichen Kontext entschieden, die nicht aus der Notwendigkeit heraus entstanden ist, den Anforderungen meiner Arbeit gerecht zu werden, denn es liegt kein Defizit an Wissen oder Kompetenzen vor, um meine Aufgaben erfüllen zu können. Ich habe mich für dieses Kurzseminar entschieden, um Hintergründe und die Thematik besser zu verstehen und damit meine eigenen hohen Qualitätsansprüche an meine Arbeit zu erfüllen. Meine Erwartung war, mich in meinem Themengebiet kompetenter zu fühlen und die Bedürfnisse meiner Kund*innen noch besser zu verstehen und darauf eingehen zu können. Der Kursinhalt und vor allem der Praxisaustausch mit den Kursteilnehmenden und der Kursleitung waren sehr aufschlussreich und haben dazu geführt, dass ich mit mehr Selbstvertrauen an meine Arbeit herangehe und mich für neue Themenfelder interessiere.
Seit meiner Rückkehr in die Schweiz arbeite ich zwar nicht mehr als Englischkursleiterin, ich bin seit drei Jahren jedoch nebenberuflich als DaF/DaZ-Kursleiterin tätig. Die geschilderten Erfahrungen mit expansivem Lernen haben sich auch auf mein professionelles Handeln als Ausbilderin ausgewirkt. Die Erkenntnis, dass Lernen aus meiner eigenen Motivation heraus in bestimmten Lebenssituationen zu mehr Handlungsmöglichkeiten und einer erhöhten Lebensqualität geführt hat, beeinflusst mein didaktisches Vorgehen, denn ich möchte, dass meine Teilnehmenden ebenfalls für sie relevante Dinge lernen, die ihnen Freude und neue Möglichkeiten bereiten. In meinen Kursen sind die Lerninhalte und übergeordneten Lernziele durch den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) und das Lehrmittel der entsprechenden Schule vorgegeben. Deshalb versuche ich, jeweils Begründungen dafür zu liefern, weshalb die Teilnehmenden etwas lernen sollen und was mögliche Konsequenzen sind, wenn sie es nicht tun. Dank Einblicken in ihre persönlichen Lebenswelten versuche ich, Handlungssituationen möglichst in den individuellen Kontext der Lernenden zu setzen, und ich teile Ideen, wie sie trotz Vorgaben selbstbestimmter und bedürfnisgerechter lernen können. Damit hoffe ich, zu erreichen, dass die Kursteilnehmenden weniger Druck verspüren, ein bestimmtes Sprachniveau erreichen zu müssen, sondern Freude an der Sprache entwickeln und aus dem Kurs das mitnehmen, was ihr Leben bereichert.
Sich seiner Rolle bewusst werden
Beruflich bin ich im Gesundheitswesen sozialisiert worden. Während der Ausbildung als Pflegefachmann in einem grossen Spital war ich von Beginn weg fasziniert von dem komplexen Betrieb, den verschiedenen Disziplinen und wie sich all die einzelnen Elemente zu einem funktionierenden grossen Ganzen zusammenfügten.
Früh habe ich im Alltag gelernt, dass es, wenn ich in meiner Rolle im System Spital an herausfordernde Situationen trete, auf mich ankommt. Ich kann mir Zeit für jemanden nehmen, um Unklares zu klären. Ich bin diejenige Person, die während der Schicht Komplikationen erkennen und handeln kann. Am Ende entscheide ich, ob und wie ich reagiere und damit einen Unterschied mache oder eben nicht.
Geprägt hat mich dabei die Erkenntnis, dass im Grunde zwei Elemente dazugehören: Einerseits die Einsicht, dass mit dieser Rolle untrennbar Verantwortung verbunden ist – indem ich diese Verantwortung wahrnehme, bin ich in der Lage, Dinge zu verändern. Und andererseits gibt es die Ebene des Verhaltens, wo ich in einer konkreten Situation versuche, das Richtige zu tun. Für sich allein sind beide Ebenen nur bedingt wirkungsvoll. Gelingt es jedoch, die eigene Haltung zu reflektieren und damit im Moment zu agieren, wird vieles möglich.
Heute bin ich der Ansicht, dass ich erst dank diesen im Alltag gewonnenen Erfahrungen in der Lage war, neben der Schichtarbeit im Spital auf dem zweiten Bildungsweg Matura und Studium in Angriff nehmen zu können. Schliesslich haben mich meine Erfahrungen im komplexen System Spital zu meiner Berufung zum Arbeits- und Organisationspsychologen geführt. In weiteren beruflichen Rollen, sei es im HR oder in der Unternehmensberatung, konnte ich mit obiger Haltung Themen angehen und Projekte übernehmen. Und im Gegenzug daraus lernen. Wirksamkeit entsteht für mich am Ende im Tun, indem ich Themen angehe und versuche, Verantwortung zu übernehmen. Nicht weil ich als Person besonders schlau oder kompetent bin, oft ist das Gegenteil der Fall, sondern schlicht, weil ich in meiner Rolle die Möglichkeit dazu habe.
In meiner aktuellen Funktion als Dozent und Zentrumsleiter am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ist es mir wichtig, dass die Menschen, welche zu uns kommen, um sich und ihre Organisationen weiterzuentwickeln, diese Lernerfahrung und Wirksamkeit erleben können. Dies einerseits, indem sie ihre eigene Haltung, ihr Rollenverständnis und ihre Werte reflektieren und schärfen. Und andererseits, indem sie Werkzeuge erlernen und einsetzen können, um gerade auch in herausfordernden Situationen wirksam zu werden.
Wie jede Kompetenz bleibt allerdings auch diese nicht ohne Nebenwirkungen. Wo Potenziale und Chancen liegen, gibt es auch Risiken. Denn wer Verantwortung übernimmt, ist am Ende eben auch verantwortlich. Im Alltag kann dies dazu führen, dass sich zeitweise zu viele Themen und Aufgaben auf dem eigenen Tisch stapeln. Ich selber konnte lernen, dass die Übernahme von Verantwortung nicht ohne klare persönliche und rollenbezogene Grenzen funktioniert. Oder frei nach dem Entwicklungs- und Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun: Neben der Kompetenz, Verantwortung in der Rolle zu übernehmen, braucht es die ausgleichende Kompetenz, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und dafür einzustehen. Beides ist nicht einfach. Denn wenn es einfach wäre, so wäre ziemlich sicher weder Lernen noch Entwicklung möglich.
Die Verbindung kappen
So paradox es klingt, es hat etwas Anregendes, fast nichts zu verstehen. Dieses Gefühl habe ich vor 20 Jahren kennengelernt, als ich sechs Monate in Japan gelebt habe. Mit meinen geringen Japanischkenntnissen bewegte ich mich in einer Welt, in der nichts selbstverständlich war. Eine Mahlzeit bestellen, ein Schild lesen, eine Durchsage in der U-Bahn verstehen: Alles erforderte meine volle Aufmerksamkeit, meine absolute Präsenz.
Diese Hyperaufmerksamkeit war für mich keineswegs anstrengend, sondern belebend. Ich befand mich in dieser mittleren Zone, in der man gerade genug versteht, um voranzukommen, aber jeder Schritt eine Herausforderung bleibt. Später entdeckte ich das Konzept der zone of optimal confusion, also der optimalen Verwirrungszone, aber damals wusste ich nur, dass ich mich lebendig fühlte. Dass ich jeden Tag ein bisschen mehr wusste, dass ich ein bisschen mehr Freiheit und Kontrolle über meine Umgebung gewann.
Einige Jahre später, als ich mit meinem Gleitschirm in 1000 Metern Höhe über dem Abgrund schwebte, wurde mir die Bedeutung dieser Erfahrung klar. Inmitten der Wolken hielt ich buchstäblich mein Leben in meinen Händen. Bei den ersten Flügen war ich völlig abhängig von der Stimme meines Fluglehrers im Funkgerät. Aber nach und nach begann mir diese Stimme, die mich anleitete, lästig zu werden. Ich wollte, dass sie schweigt, dass sie mich alleine fliegen lässt, meine eigenen Fehler machen lässt, meine eigenen Erfahrungen sammeln lässt. Diese Rebellion war aufschlussreich: Lernen bedeutet auch, Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen und nicht nur Anweisungen auszuführen.
Diese Erkenntnis hat sicherlich die Art und Weise beeinflusst, wie ich meine eigenen Lernenden begleite. Sie hat mich gelehrt, zu erkennen, dass Hilfe auch hinderlich sein kann. Wie kann ich Raum schaffen für diesen kostbaren Moment, in dem jemand lieber sein Funkgerät ausschaltet und die Verbindung kappt, diesen wunderbaren Moment, in dem ich mich als Ausbilderin zurücknehmen und in den Hintergrund treten muss?
Mir scheint, dass diese Erfahrungen tief geprägt sind von einer Art naiver und fröhlicher Überzeugung, die schon sehr früh in meiner Kindheit vorhanden war: Wenn jemand vor mir in der Lage war, etwas zu verstehen, gab es keinen Grund, warum ich es nicht auch schaffen sollte. Die Vorstellung zu lernen machte mir keine Angst, sondern bot mir eine grössere Freiheit, nämlich die, über mein Leben selbst entscheiden zu können. Später las ich ein Zitat – dessen Quelle ich nicht mehr finden kann –, das all das versinnbildlicht: «Lernen heisst verstehen, und verstehen heisst frei sein.» Verstehen bedeutet für mich nicht, Wissen anzuhäufen, sondern wählen zu können, selbstständig zu denken und nicht dem Unbekannten ausgeliefert zu sein.
Ich muss das ein wenig relativieren bzw. etwas differenzierter ausdrücken: Ich glaube nicht an die meritokratische Vorstellung, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Ich weiss, dass nicht alle die gleichen Chancen haben. Aber ich weiss auch, dass etwas in Bewegung kommt, wenn man auf Wissen stösst, das einen anspricht, wenn man die richtige Unterstützung und Spielraum für Eigenständigkeit erhält. Und die dadurch entstehende Dynamik kann, wenn man es zulässt, lebensverändernd sein.
In einer lärmigen Welt zuhören
Wieso? Warum? Muss es wirklich so sein? Als Kind habe ich sehr viele Fragen gestellt, wurde mir mehrfach gesagt. Ich wollte die Welt erkunden und verstehen. Ich durfte die alte Zeitung meines Vaters erst haben, wenn er sie fertiggelesen hatte. Seit ich denken kann, interessierten sich meine Eltern sehr für das Weltgeschehen. Die Tagesschau auf dem Sofa nach dem Abendessen zu schauen, wurde fast zum Ritual. Die Nachrichten wurden jedoch nie hinterfragt. Als ich das elterliche Haus verliess, wurden die Pendler am Zürcher Hauptbahnhof mit einer anregenden Frage konfrontiert: «Liebe Welt, wie ist es dir über Nacht ergangen?» Die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung und die Informationsquellen waren im Vergleich zu heute recht überschaubar. Und trotzdem fanden wir es gut, so, wie es war.
30 Jahre später ist immer noch ein neugieriges Kind in mir, das die Welt verstehen möchte. Das Echtzeit-Internet hat ein Überangebot an Medien geschaffen, sodass es schwierig wird, dem «Bling-Bling-News-Infoflash» zu entgehen. Das Internet bot eine neue Möglichkeit, abseits der Mainstream-Medien, eine divergierende Meinung zu publizieren und damit viele Leute zu erreichen. Die ständige Dauerberieselung durch News und Benachrichtigungen auf dem Smartphone wurde mir irgendwann zu viel. Ich wurde zum News-Junkie. Ich musste lernen, meine Neugier zu dosieren, um mich geistig nicht zu verausgaben und offen zu bleiben für die Welt.
Wie kann ich die Welt ohne Scheuklappen erkunden? Wie kann ich Lernerfahrungen sammeln, die meinen geistigen Horizont erweitern? Expansives Lernen bedeutet für mich, über den Tellerrand zu schauen, zu denken und zu handeln. Expansives Lernen ist für mich nur möglich, wenn ich einen Sinn dahinter erkenne. Dann möchte ich aus Überzeugung für eine Idee oder eine Vision handeln. Das ist der Kern von Innovation und Veränderung. Als Instructional Designer suche ich deshalb gerne nach Möglichkeiten, die Studierenden selbst forschen, hinterfragen und diametral unterschiedliche Auffassungen zu einem Thema suchen zu lassen, um einen anderen Blickwinkel zu erlangen. Wenn möglich, lade ich die Studierenden zu einem fairen Austausch und Dialog ein. Wie beginne ich expansiv zu lernen? Ich beginne bei mir selbst und meinen Vorurteilen. Ganz ehrlich: Es ist nicht einfach und gelingt mir nicht immer. Ein «Growth Mindset» hilft mir dabei. Wenn es mir gelingt, handle ich bewusst und proaktiv, indem ich mich auf die Welt einlasse und mitwirke.
Inzwischen habe ich meine «Screen Time» drastisch reduziert, indem ich Medien bewusster und gesteuerter konsumiere. Die ScreenZen-App blockiert meinen Zugang zu News-Portalen. Bevor ich auf die Medieninhalte von «Guardian», «Der Spiegel», «NZZ» oder SRF zugreifen kann, muss ich zehn Sekunden lang die Frage «Ist es gerade jetzt wichtig?» betrachten. Nach zehn Minuten erscheint die Frage erneut. Wenn ich mich ausschliesslich über die Wochenzeitung oder die «Weltwoche» informiere, fehlen mir viele andere Meinungen, die nicht pauschal falsch sind.
Eine funktionierende Demokratie lebt vom Austausch verschiedener Haltungen und Wertvorstellungen. Gelegentlich lese ich die Onlinekommentare zu brisanten Nachrichten. In den sozialen Medien gibt es eine grosse Bandbreite an Informationen, eigenartigen Meinungen, die als fundierte Informationen präsentiert werden, bis zu gezielter Desinformation.
Die Coronapandemie war ein Katalysator für die Polarisierung der Gesellschaft. Extremere Botschaften erreichen eine höhere Reichweite, während sich gewisse Menschen von der Gesellschaft «abgehängt» und nicht mehr gehört fühlen. Themen wie die Klimakrise, Kriege, Migration und EU-Fragen sorgten schon früher für heikle Diskussionen am Stammtisch. Heute gibt es so viele unwahre Social-Media-Beiträge, dass es ohne Faktenchecker wie Correctiv.org kaum möglich ist, die Herkunft dieser Informationen zu ermitteln. Bei Verschwörungstheorien fehlen oft transparente Quellenangaben der verwendeten Daten. Lohnt es sich, mit anderen Menschen lang und breit über den mRNA-Impfstoff zu diskutieren, wenn man kein Chemiker ist? Ich denke nicht. Ich frage nach und versuche, ohne mich zu verbiegen, auf diese Menschen einzugehen. Oder ich frage nach den Quellenangaben. Ich suche einen gemeinsamen Nenner, bei dem wir uns einigen können. Dialog fängt mit Zuhören an. Meine Neugier hat mir lange geholfen, kritische Fragen zu stellen. Künftig möchte ich bewusster fragen, um von anderen Menschen zu lernen und die Welt gemeinsam zu gestalten.
Herausforderungen annehmen
Nachdem ich mit 16 Jahren die Schule verlassen habe, weil mich das Lernen nicht interessierte, und ich mit 45 Jahren neben meiner Arbeit einen Master in Erziehungswissenschaften erworben habe, bin ich nun fast am Ende meiner Karriere angelangt und mir ist heute bewusst, welchen Stellenwert das expansive Lernen für meinen beruflichen Werdegang hatte.
Ich habe bei der SBB als Lehrling, wie es damals noch hiess, im Betriebsunterhalt angefangen, dem einfachsten Beruf des Konzerns, und bin derzeit zu 60% als Fachkraft in der Personalentwicklung dieses Unternehmens tätig. Dazwischen habe ich drei Ausbildungen absolviert und 13 verschiedene Berufe ausgeübt, vier Jahre lang zehn Abteilungen und 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geleitet und war für alle «nicht fachspezifischen» Ausbildungsangebote verantwortlich. Die restlichen 40% meiner Arbeitszeit widme ich der Ausbildung in mehreren Instituten in der Westschweiz, in verschiedenen Modulen, die zum eidgenössischen Fachausweis Ausbilder (FA) führen.
Worin besteht die Verbindung zwischen meinem Werdegang und dem expansiven Lernen? Nun, dass ich angefangen habe, als Berufsbildner für angehende Kundenbegleiter*innen bei der Bahn zu arbeiten, ist zum grossen Teil meinen sportlichen Aktivitäten zu verdanken. Als begeisterter Fussballer und Skifahrer hatte ich J+S-Kurse absolviert, um junge Menschen zu trainieren, und Verantwortung in lokalen Vereinen übernommen. Das Planen von Trainingseinheiten, das Organisieren von Aktivitäten und das Leiten von Teams sind alles Kompetenzen, die ich auf diese Weise effizienter entwickeln konnte, als wenn ich all das nur in der Schule gelernt hätte. Ich übernahm auch die Verantwortung für eine Berghütte, die hauptsächlich von Freiwilligen betrieben wurde. Dabei konnte ich im Zuge einer kompletten Renovierung meine Kenntnisse im Projektmanagement verbessern und meine Kommunikationsfähigkeiten in einem Komitee von etwa zehn Personen und mit den rund 70 aktiven Mitgliedern des Vereins ausbauen, damit während der Saison alles reibungslos ablief.
In den ersten 20 Jahren meiner beruflichen Laufbahn war mir nicht wirklich bewusst, warum mir oft neue Herausforderungen in Positionen angeboten wurden, für die ich weder eine Ausbildung noch die normalerweise erforderlichen formalen Qualifikationen hatte. Meine Begeisterung und vermutlich auch ein wenig Naivität, die mit meiner Persönlichkeit zusammenhing, spielten dabei sicherlich eine Rolle. Aber rückblickend stelle ich fest, dass ich mitten im erfahrungsbasierten Lernen, wie David Kolb es nennt, steckte.
Als ich 2004 meine erste universitäre Weiterbildung begann, ging es mir einzig und allein darum, die Befähigung zu erlangen, um in den Modulen für den Fachausweis Ausbilder in der Erwachsenenbildung unterrichten zu können. Damals war es sicherlich der Dunning-Kruger-Effekt, der mich kompetenter erscheinen liess, als ich war, denn ich war davon überzeugt, dass meine praktischen Erfahrungen allein ausreichten. Während ich zu Beginn meines Studiums Theorie und Praxis als Gegensätze und insbesondere die Universität als «Elfenbeinturm» betrachtete, stellte ich mit der Zeit fest, dass mich nicht nur «konkrete Erfahrungen» weitergebracht hatten, sondern auch die Tatsache, dass ich unbewusst analysierte, was funktionierte und was nicht (reflexive Beobachtung), dass ich versuchte, daraus Lehren zu ziehen (abstrakte Konzeptualisierung) und diese testete (aktive Erfahrung). Als ich das verstanden hatte, wurde für mich alles klarer und ich begriff, wie wichtig es ist, diese vermeintlichen Antagonismen miteinander zu verbinden, anstatt sie einander gegenüberzustellen. Sie sind untrennbar miteinander verbunden und befruchten sich gegenseitig.
Heute habe ich das Glück, durch meine Tätigkeit sehr unterschiedliche Menschen kennenzulernen, und ich versuche, sie zu ermutigen, ihre bisherigen Erfahrungen zu nutzen, um ihre Überlegungen und die Theorien, die sie kennenlernen, zu untermauern und ihre zukünftige Praxis zu bereichern. Für mich ist das die beste Art und Weise, lebenslanges Lernen zu veranschaulichen.
Lebensfreude
Lernen geschieht nicht nur in der Form, dass Menschen Wissen in sich aufnehmen, sondern auch in der tätigen Veränderung unserer Umwelt und unserer Lebensbezüge. In beruflich selbstorganisierten Projekten, die eine Art Handlungsforschung darstellen, erleben ich und die Teilnehmenden die Entdeckung von neuen Zusammenhängen als expansives Lernen. Dabei geht es um Lernerfahrungen, die nicht nur den Kontext des Projekts betreffen, sondern im breiteren Sinn die alltägliche individuelle Lebenswelt, beispielsweise das Wohnen, Einkaufen, Freundschaften pflegen …
In meiner Berufspraxis im kulturellen Kontext von Kunst und Landschaft, ein Feld, in dem ich mich schon seit einem Vierteljahrhundert bewege, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, mich als lernendes Subjekt zu analysieren und die wesentlichen Elemente in meinem expansiven Lernen kennen zu lernen. Ich stellte mir immer wieder folgende Fragen: Lerne ich allein oder in einer Gruppe? Wie gestalte ich meine Themen? Wer gibt mit Feedback oder Kritik? Und mit welchen anderen lernenden Subjekten teile ich Ziele oder Lernumgebungen?
Mir wurde bewusst: Es ist eine tolle Freiheit zum Lernen! Meine Lernumgebungen in meinem beruflichen Umfeld sind durch die Vermittlung und Organisation bestimmter Themen verbunden. Einige Themen ziehen sich durch meine ganze Biographie hindurch, andere ändern sich mit einem Mandat, einem Auftrag, einer Expertise. Die Tätigkeiten für dieses Lernen sind bestimmt von Methoden wissenschaftlichen Forschens, Analysierens, Überprüfens und heute von der selbstständigen Projektarbeit. Es formt sich weiter bei der Bildung von lernenden Arbeitsgruppen, Tutorials oder Mentoraten im wissenschaftlichen Kontext, bei der Beurteilungsarbeit oder im Mittun in Vereinen. Die Arbeitsorte sind mein privates Büro, verschiedene Gemeinschaftsateliers, Co-Working-Spaces als Independent Worker im Ausland, kulturelle Off-Spaces oder zeitlich begrenzte Festivals und kulturelle Anlässe.
Wie viele Independent Workers im Kulturbereich arbeite ich oft allein und habe längerfristige und kurzfristige Projekte nebeneinander zu organisieren sowie Netzwerke zu pflegen. Dieses Lernen geht von meinen individuellen Standpunkten als lernendes Subjekt und nicht von einem normativ gesetzten Bildungsideal oder -ziel aus.
So begann ich mit Mitte 50 – am Anfang meiner erneut unabhängigen Berufspraxis – meine Themen genauer zu analysieren. Ich besuchte Kurse von Weiterbildungsorganisationen in neuen Medien und KI und las viel zu den Themen, in denen ich mich spezialisiert fühlte. Zudem organisierte ich grössere, lang andauernde Projekte, in denen ich verschiedene Themen meines Spezialgebietes vertiefte: die Installation eines Uhrwerks mit digitalen Elementen im Alpenraum von zwei Münchner Kunstschaffenden und eine Ausstellung in einem unabhängigen Space, «Embodied landscape» mit künstlerischen Arbeiten von sieben Kunstschaffenden, die Landschaftselemente in sich tragen und thematisieren.
Die an diesen beiden Projekten beteiligten Kunstschaffenden blieben über Zoom als Diskussionsgruppe zusammen, und wir trafen uns in Meetings, um die inhaltlichen und organisatorischen Fragen zu klären. Eine Gruppe ist bis heute regelmässig im Kontakt. Wir trafen uns diesen Frühling wieder im Kunstverein Lunden fast vollständig und arbeiteten mit den lokal verankerten Künstlerinnen in der platten Landschaft, die mit Eindeichung und Kanalbau durch Menschenhand geschaffen wurde, und vertieften uns in den Kontext des Wattenmeeres. Aus den verschiedenen Zoom-Meetings, in denen wir uns über Bücher, wissenschaftliche Artikel und weiterführende Aspekte ausgetauscht hatten, entwickelte sich ein weiteres aktives gemeinsames Projekt. Expansives Lernen ist oft auch Pflege von persönlichen Kontakten.
Die Projekte erfahren auch eine Expansion in meinem Alltag. Seit über zehn Jahren besitze ich eine Alm, auf der ich sommersüber das Leben auf 1500 Metern über Meer aus eigener Anschauung kennen lerne. Ich bin Teil einer Alpgenossenschaft und richte in dem umgebauten Stall eine Bibliothek zum Alpenraum und seiner land(wirt)schaftlichen Nutzung ein. Meine eigenen Bücher zu dem Thema stehen auch in dieser Bibliothek; und ich freue mich am Wachsen dieser Lernumgebung auf der Alp und zeige meinen Besucher*innen das neu Entstehende.
Die gemeinsame Reflexion von Lernprozessen festigt nicht nur meine sich erweiternde Berufspraxis, sondern bringt Lebensfreude. Und – nicht zuletzt – lerne ich viele neue Kochrezepte aus dem Alpenraum kennen, die ich natürlich ausprobiere. So verbringe ich auch viel Zeit mit Sammeln von Pflanzen, mit Kochen und Essen-Organisieren! Meine Älpler-Maccaroni sind gekochte Kartoffeln und Penne. Beim Anrichten kommen angedünstete Zwiebelringe dazu und natürlich das selbstgemachte Apfelmus.
Persönliches Wachstum
Das in der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von Klaus Holzkamp entwickelte Konzept des defensiven Lernens trifft den Kern meiner obligatorischen Schulzeit und Berufslehre erstaunlich gut. Gemeint ist damit eine Anpassung an Lernanforderungen, die ohne innere Beteiligung erfolgt – eine Art stilles Einfügen, ohne Resonanz. Bei mir äusserte sich das in einem Arrangement mit der mangelnden Individualität der Schule. Ich zeigte weder Interesse noch Lust an Inhalten oder am Lernen selbst.
Stefan Zweig beschreibt in seinen Erinnerungen eines Europäers, wie grosse Teile seiner wahren Bildung ausserhalb der dafür vorgesehenen Institutionen stattfanden, weil seine brennenden Fragen und Empfindungen dort keinen Platz hatten. Das trifft auch auf meine frühen Bildungsetappen zu. Die Schule liess mich unbeteiligt zurück. Dennoch war diese Unwegsamkeit im Rückblick alles andere als wertlos. Im Gegenteil, sie wurde zum Fundament, auf dem sich mein späterer Weg aufbauen konnte.
Zwar hat sich das Bildungsverständnis seit Zweigs Eindrücken am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert bis in meine Zeit hinein erheblich gewandelt. Aber die Grundsatzdiskussionen bleiben erstaunlich stabil. Auch unter dem Einfluss neuer Technologien verschieben sich die Kontroversen nur marginal. Das Bildungssystem meiner Jugend konfrontierte mich mit diffusen Anforderungen, die sich in keinem Lehrplan fanden, aber dennoch wirksam waren. Erst später erhielten sie einen Namen: Future Skills.
Ich bin überzeugt, dass Stefan Zweig – privilegiert, gebildet und sozial begünstigt – viele dieser «neuen» Kompetenzen bereits in seiner Jugend einübte. Es geht um den Umgang mit Unsicherem, um die Fähigkeit, Unkomfortables auszuhalten, Situationen aktiv zu verbessern, sich am Erfüllenden zu orientieren und dabei unterschiedlich zu handeln – einmal als Schüler, ein anderes Mal als Freund im sozialen Gefüge der Klasse. Gerade weil institutionelle Bildung oft das Potenzial und die Interessen der Lernenden hemmt, entfalten sich Handlungsspielräume dort, wo sie nicht vorgesehen sind. Gestaltungsmacht und Selbstwirksamkeit entstehen. Sie sind nicht messbar in Schulnoten, aber spürbar in eigenmächtigen Entscheidungen. Zweigs Beobachtung klingt mir an dieser Stelle zu resignierend: «[W]ir sollten jede Form des Aufstiegs erst durch geduldiges Warten uns verdienen.» Im Gegensatz dazu sind meine Lernerfahrungen im Schulalter geprägt vom Lernen in Gruppenarbeiten und von der Auseinandersetzung mit Anderen. Lernen in Sozialformen, welches rückblickend viel zum Aufbau von Problemlösungskompetenzen beigetragen hat. Ich würde dabei nicht von Aufstieg sprechen, sondern von persönlichem Wachstum. Ich musste nicht bloss erdulden und warten, sondern wurde von den Lernerfahrungen in verschiedenen Sozialformen über den Frust mit dem Schulstoff hinweggetragen.
In meinen Augen handelt es sich dabei um transformative Kompetenzen. Fähigkeiten, in denen sich der Anspruch auf ein gesundes gesellschaftliches Wachstum in der lernenden Person artikuliert. Sie wurden zur tragenden Struktur meiner Bildungs- und Berufsbiografie. Das Wachsen an praktischen Problemen und die Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit stehen im Zentrum und beides wurde mir über die Sozialwissenschaften als Disziplin noch verdeutlicht.
Die Verbindung von sozialer Arbeit und Bildung war für mich immer eine ausgesprochen persönliche. In der Kombination dieser Komponenten ist ein Bildungsverständnis gewachsen, das mich bis heute leitet. Ermächtigung, Selbstbestimmung, Kritik und Aufklärung – und die daraus gereifte Freiheit – sind für mich zentrale Orientierungen dieses Verständnisses.
Eine Bildung hinter der geplanten, eine Metabildung, heute vielleicht am ehesten als informelle Bildung bezeichnet, hat in mir das Bild eines formbaren Weges erzeugt. In meiner Vorstellung ist lebensentfaltendes Lernen nicht auf ein konkretes Konzept oder eine bestimmte Bildungsinstitution festgelegt. Es ereignet sich dazwischen – zwischen Bildungssequenzen, Berufsstationen und biografischen Wendepunkten.
Dabei geht es um das Verknüpfen von Erfahrungen, um Kohäsion und das Emergente – jenes Neue, das aus einer ungeplanten Zusammenschaltung von Erkenntnissen entsteht. Mein Lernen vollzog sich in diskontinuierlichen und nichtlinearen Etappen, mit Erwachsenenmatur, späten Entscheiden fürs Studium und fachfremden Berufstätigkeiten. Aber in der beständigen Integration dieser Erfahrungen entstand für mich ein tiefer Sinn und nachhaltiger Mehrwert.
Heute profitiere ich von formalisierten Lernerfahrungen viel intensiver mit diesem Hintergrund. In meiner Berufspraxis in der Bildung habe ich meinen Weg als ergiebiges Potenzial schätzen gelernt.
Sich verändern, um zu sich selbst zurückzufinden
Lange Zeit habe ich mich von dem Gedanken leiten lassen, dass man es richtig machen muss. Einen seriösen, sicheren und verantwortungsvollen Weg einschlagen muss. Ich begann mit einer kaufmännischen Ausbildung und bekleidete anschliessend verschiedene Verwaltungspositionen. Das war konsequent, beruhigend ... aber es war nicht wirklich ich. Damals wusste ich das noch nicht, weil ich mir weder darüber im Klaren war, wer ich war, noch, was ich wirklich wollte. Ich lebte im Automatikmodus, wie viele von uns. Man trifft logische Entscheidungen, die auf dem, was man kennt, basieren, ohne sich jedes Mal zu fragen, ob sie zu einem passen. Ich habe den akademischen Weg eingeschlagen – eigentlich bin ich dem Weg einer meiner Schwestern gefolgt.
Wir verändern uns mit der Zeit, durch Erfahrungen und Begegnungen. Wir entwickeln uns weiter. Und auch unsere Sicht auf uns selbst, auf andere und auf das Leben verändert sich. So werden andere Entscheidungen möglich. Entscheidungen, die für uns persönlich stimmiger, passender sind.
Mein allererster Traum war es, Physiotherapeutin zu werden. Ich war von Pflege, Berührung und vom Körper fasziniert. Letztendlich führte mich das Leben jedoch in eine andere Richtung, hin zu Verwaltungsaufgaben und dann zum Personalwesen als Ausbilderin für Erwachsene. Und auch wenn das nicht das war, was ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, fühlte es sich richtig an. Ich mochte es, für andere da zu sein, ihren Lebenswegen, ihren Zweifeln und ihren Motivationen zuzuhören. Das galt sowohl für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für Personen, die bestimmte Facetten ihres Lebens hinter sich lassen wollten. Es ging mir auch darum, ein Gefühl der kollektiven Intelligenz zu entwickeln, um gemeinsam Lösungen zu finden.
Ich persönlich habe immer Vielfalt, Bewegung und Tiefe gebraucht. Abwechslung ist für mich kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Sie beflügelt mich und gibt mir jeden Morgen den Antrieb, aufzustehen. Ich habe verstanden, dass ich mich niemals mit einer starren Rolle oder einem routinemässigen Alltag zufriedengeben könnte, der keine Überraschungen bietet. Ich brauche den Bezug zu menschlichen Geschichten, die alle einzigartig sind.
Also machte ich mich auf die Suche. Die Hypnotherapie kam eher zufällig in mein Leben, als Antwort auf ein Bedürfnis, das ich nicht in Worte fassen konnte. Zunächst wurde ich Ausbilderin für Baby- und Kindermassagen, dann Hypnosetherapeutin. Das war ein Wendepunkt. Diese innere Arbeit hat mich wieder mit dem verbunden, was ich beiseitegeschoben hatte. Ich habe gelernt, anders zuzuhören, zu entschleunigen, dem Schweigen zu vertrauen. Und ich habe verstanden, dass Begleitung nicht nur aus Ratschlägen besteht, sondern dass es dafür auch einer angemessenen Präsenz und des Zuhörens bedarf.
Heute sage ich gerne scherzhaft, dass ich vielleicht keine Rücken massiert habe, aber dass ich in meinen verschiedenen Berufen als Ausbilderin oder Hypnosetherapeutin den Geist massiere. Ich berühre keine Schultern, sondern rühre an Glaubensmustern. Und in gewisser Weise hat sich mein Traum von der Pflege erfüllt – die Heilung erfolgt jedoch auf andere Weise.
In dieser Zeit entdeckte ich auch Die vier Versprechen: Ein Weg zur Freiheit und Würde von Don Miguel Ruiz. Dieses Buch hat mich tief beeindruckt. Vier einfache Sätze, die, wenn man sie täglich anwendet, alles verändern; diese Versprechen sind zu Orientierungspunkten geworden. Sie haben mir geholfen, aus meiner Reaktionshaltung herauszukommen, Frieden mit meinen Beziehungen zu schliessen und mich wieder mit einer Form der inneren Ausrichtung zu verbinden. Sie sind auch heute noch ein Kompass, den ich oft mit den Menschen teile, die ich begleite.
Heute ist mir bewusst, dass ich die Summe all meiner Entscheidungen bin. Die guten, die zögerlichen, die spontanen. Die, die ich bewusst, und die, die ich eher blindlings getroffen habe. Und genau das macht den Reichtum meines Lebensweges aus. Nichts war umsonst. Jeder Umweg hatte seinen Sinn.
Ich sehe mich nun als eine Person, die alles verbindet: Manchmal bin ich Ausbilderin, manchmal Therapeutin, manchmal Coach oder sogar Beraterin, ja, Thermomix-Beraterin. Der Titel spielt keine Rolle. Was zählt, ist das, was ich schaffe: einen Raum, in dem sich andere zurücklehnen, durchatmen und austauschen können. Einen Raum ohne Wertung und ohne Druck, wo sich niemand hinter einer Maske verstecken muss.
Ich biete keine Wunderheilmethode an. Ich biete meine Präsenz während meiner Kurse oder im Rahmen von Einzelsitzungen an. Einen Weg, der oft intim, manchmal unbequem, aber zutiefst befreiend ist. Und jedes Mal, wenn eine Person ihren Elan, ihre Klarheit, ihre Handlungsfähigkeit wiederfindet, weiss ich, dass ich am richtigen Platz bin.
Mit Ungewissheit umgehen
Havanna, Kuba, April 2018: Blauer Himmel, vor uns der weite, unbändige und unbekannte Atlantik. Wir sind sechs Personen auf dem Deck der Marlin Expeditions, darunter ich als Novizin unter den Seglern, auf einer West-Ost-Überquerung.
Herausforderungen habe ich nie gesucht, sie haben mich gefunden, beruflich wie auch privat. Vielleicht liegt es daran, dass ich gerne experimentiere, etwas wage oder dass ich mich in neuen, unbekannten Kontexten wohlfühle und rasch Beziehungen zu Menschen und zum Umfeld aufbaue. Aber woher kommt das?
Leinen los, ablegen: Die ersten Tage sind rau, hart am Wind, aufkreuzen, sich kennenlernen, positionieren, ja nicht unter Deck gehen.
So ist es also auf einem Segelboot, im engsten Raum und in unmittelbarer Interaktion mit den Mitseglern, dem Schiff, dem Ozean. Noch kann ich nicht abschätzen, was mich in den nächsten Stunden, Tagen, Wochen erwartet. Sicher ist: Im Hier und Jetzt muss es funktionieren, ich muss funktionieren. Und siehe da, ich werde zur Expertin: Ausdauer, Kommunikation, Motivation und Empowerment sind gefragt, ebenso ein pragmatisch-lockerer Umgang mit unbeständiger Wetterlage und der eigenen Unerfahrenheit. Ein Sechser im Lotto?
Kurs halten: Wunderschön sind die Tage auf dem offenen Meer, bezaubernd die Nächte unter dem Sternenhimmel, anstrengend die Nachtwachen, intensiv das Leben in der Zeitlupe.
Und plötzlich wird es spannend und energetisierend, die Lage immer wieder neu zu bewerten, die Bedingungen zu deuten, Pläne zu machen und sie wieder zu verwerfen oder fortlaufend zu modifizieren. Dabei ist es wichtig, die eigenen und kollektiven Ressourcen bewusst einzusetzen, um entspannt und handlungsfähig zu bleiben. In Resonanz und Vertrauen mit sich selbst, den Menschen, dem Boot und der Natur.
Ankommen, Leinen festmachen: Geschafft! Der Boden schwingt. Geschafft? Die Sehnsucht nach dem Meer ist geweckt, ebenso das Verlangen nach Ungewissheit, Unbeständigkeit und Veränderung.
Zu Beginn brauchte es Mut, Zuversicht und die Überzeugung, dass es gut wird. Die unmittelbaren Erfahrungen stärkten mich von Tag zu Tag. Ich merkte, wie bewusst ich mit meinen Ressourcen umging und wie wandelbar sie waren.
Während des Transatlantik-Törns habe ich erlebt, dass Pläne nie starr bleiben können, sondern immer wieder angepasst oder neu ausgerichtet werden müssen, um auf wechselhafte Bedingungen zu reagieren. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Situationen kontinuierlich neu zu bewerten, flexibel zu denken und spontan zu handeln, um das gewünschte Ziel dennoch zu erreichen. Dadurch habe ich gelernt, Unsicherheit und Unerfahrenheit nicht als Schwäche, sondern als Chance zu begreifen. Nicht Wissen, sondern Nichtwissen stärkte dabei meine Resilienz und Selbstwirksamkeit und spornte mich oft an zu kreativen Einfällen und unkonventionellen Lösungen.
Und ich habe gelernt, das Potenzial der anderen und die Vielfalt zu schätzen – diese inspirierende Spannung von Beweglichkeit und Unbequemlichkeit, die sich nur in Offenheit und Vertrauen entfaltet. Gemeinsam haben wir unsere Fähigkeit erweitert, mit begrenzten Ressourcen kreativ umzugehen und in unklaren Momenten gelassen zu bleiben. Trotz oder dank einiger Streitgespräche.
Diese Erfahrung wirkt sich nachhaltig auch auf mein professionelles Handeln in der Erwachsenenbildung aus. Statt an starren Konzepten und Feinplanungen festzuhalten, gestalte ich Lernprozesse dynamisch, setze auf flexible und ergebnisoffene Lernarrangements und ermutige Lernende, eigene Wege zu entwickeln. Ähnlich wie beim Segeln, wo die gesamte Crew den Kurs hält, entsteht auch in der Lehre ein Raum für kollektives, kreatives und ressourcenorientiertes Handeln. Dies fördert sowohl individuelle als auch gemeinsame Lernprozesse.
Oft lassen sich die äusseren Rahmenbedingungen im Beruf und Alltag nicht kontrollieren. Umso wichtiger ist es, die vorhandenen Möglichkeiten geschickt und kreativ zu nutzen. Es geht nicht darum, nach Perfektion zu streben, sondern in Szenarien zu denken und mit Prototypen zu experimentieren, um beweglich zu sein und rasch auf Veränderungen zu reagieren.
In diesem Sinne verstehe ich auch professionelle Exzellenz in der Erwachsenenbildung: Ein kreatives Selbstverständnis fördern, transformationales Selbstvertrauen stärken und vernetzt zusammenwirken.
Entdecken und Erleben
Als Beispiel für ein bewusstes (räumliches) Ausweiten meines Handlungsspielraums zählt für mich mein letztes Praktikum am damaligen Primarlehrer*innenseminar. Man konnte die Praktikumsstelle für vier Wochen selbst wählen und war nicht an die Stufe gebunden, die man später unterrichten wollte. Meine Kolleginnen und Kollegen haben diese Wahlmöglichkeit genutzt, um beispielsweise an heilpädagogischen Schulen zu arbeiten oder noch auf einer anderen Stufe zu lehren. Ich wollte damals ins Ausland, den Rahmen der Schulen im Kanton Zürich empfand ich als zu eng. In einem ersten Schritt habe ich deshalb Schweizer Schulen im Ausland für mögliche Praktika angeschrieben, aber leider ausschliesslich Absagen bekommen.
Im Jahr zuvor war ich allerdings durch Australien gereist und hatte dort die Schulen im Outback kennengelernt, die sogenannten Schools of the Air. Nach den negativen Bescheiden der Schweizer Schulen schrieb ich zwei Schulen im Outback an, bewarb mich dort um einen Platz – und erhielt postwendend Zusagen.
Umgesetzt habe ich das Praktikum an der «Kimberley School of the Air» in Western Australia. Die erste Woche verbrachte ich in Derby, wohnte bei der Familie des Schulleiters und arbeitete im Büro der Schule mit integriertem Funk- und Radiobüro. Es war noch die Zeit vor der Einführung des Internets, das heisst die Klassen haben sich regelmässig ein- bis zweimal pro Woche zu fixen Zeiten per Funk gesprochen, die Aufgaben und Lernmaterialien wurden per Flugzeug regelmässig verschickt und auch wieder eingesammelt. Gelernt haben die Schülerinnen und Schüler auf den sogenannten Stations oft mit ihren Müttern, die mit ihnen die zugestellten Unterrichtsmaterialien bearbeiteten. Fragen wurden gemeinsam über Funk mit dem Lehrpersonal besprochen. Dieses Distanzlernen wurde ergänzt durch jährliche, ein- bis zweitägige Besuche der Lehrer*innen auf den einzelnen Stations. Die Besuche dienten vor allem dazu, den persönlichen Kontakt zu pflegen, die (Lern-)Umgebung der Kinder kennenzulernen, sich mit den lehrenden Personen vor Ort auszutauschen und gegebenenfalls Lehr- und Lerntipps zu geben bzw. zu erhalten. Auch auf einer solchen einwöchigen Tour durfte ich eine Lehrerin begleiten. Die Weite der Kimberleys zu erleben, die Einsamkeit auf den Stations und wie sich das Leben und das Lernen um diese spezielle Lebensform herum organisieren lässt, das alles hat mich damals sehr beeindruckt. Im letzten Teil meines Praktikums reisten alle Kinder und das gesamte Schulteam nach Broome für das jährlich stattfindende School Camp. Dieses School Camp bildete für die Schülerinnen und Schüler den Höhepunkt des Schuljahrs. Im totalen Kontrast zu den gängigen Vorstellungen der hiesigen Klassenlager erlebten sie in dieser Woche die «normale» Schule. Sie bewegten sich im sozialen Gefüge einer Klasse, sassen in echten Schulbänken und es gab eine Pausenglocke. Sie erlebten während einer Woche einen Unterricht, wie er an vielen anderen Orten der Erde üblich ist.
Ich erinnere mich zudem gut an einen der letzten Nachmittage in Broome, an dem es für das Schulteam eine Einführung ins Internet gab und an dem man sich über die Konsequenzen der Interneteinführung austauschte. Nun, 33 Jahre später, findet man die Schule über ihren Internetauftritt. Ein erneuter Besuch wäre vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen im Vergleich zu früher sicherlich enorm spannend.
Rückblickend war dies für mich eine sehr prägende (Lern-)Erfahrung, auch wenn sie sich nicht auf einen einzelnen Lerngegenstand herunterbrechen lässt, wie beispielsweise das Studium oder die Dissertation. Die Möglichkeit, ein schulisches Praktikum für mich persönlich so auszugestalten, dass ich damit gleichzeitig meinem Wunsch des Entdeckens und des Reisens nachgehen konnte und damit, etwas zu wagen und mit einer Vielzahl an Erfahrungen und Eindrücken zurückzukehren, war für mich als Lerngegenstand unbezahlbar. Ich bin überzeugt, dass dieses Erleben von Erfolg und Selbstwirksamkeit meinen weiteren Lernverlauf geprägt hat und sicher auch die Grundlage dafür war, dass ich später gezielt weitere Aus- und Weiterbildungen gesucht und absolviert habe und mich als nach wie vor neugierig bezeichnen würde.
Ausgehend von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von knapp 86 Jahren für Frauen in der Schweiz liege ich allerdings bereits weit über der Hälfte meiner Lebenszeit. Vor diesem Hintergrund beschäftigt mich zunehmend die Frage, wie sich meine zukünftigen Lernerfahrungen gestalten werden. Angesichts körperlicher Einschränkungen dürften im Alter erweiternde und lebensentfaltende Lernereignisse in gänzlich anderen Kontexten auftreten – ich würde mir wünschen, dass trotz möglicher körperlicher Restriktionen der neugierige Blick, das Selbstvertrauen und die Freude am Lernen und Entdecken und am Suchen von Handlungsspielräumen erhalten bleiben.
Literatur
Haberzeth, E. (2025): Expansives Lernen und subjektbezogene Lerntheorie. In: Education Permanente EP, 2025/2, 8–21. Zürich: SVEB.
Holzkamp, K. (1995): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Campus Verlag.
Die Lerngeschichten wurden verfasst von:
Einleitung und Redaktion: