Lebenslanges Lernen für alle? Wie meritokratische, vergeschlechtlichte und kulturalisierte Diskurse das Fehlen von Weiterbildung im Tieflohnsektor rechtfertigen
Personen, die im Tieflohnsektor tätig sind bzw. an Arbeitsplätzen ohne formale Qualifikationsanforderungen (AofQ) arbeiten, nehmen seltener an Weiterbildung teil als gutqualifizierte Personen. Weshalb ist dies der Fall, obwohl die Schweiz in Weiterbildungsgesetz und weiteren Bildungsprogrammatiken die Förderung des lebenslanges Lernens festschreibt? Aus einem Forschungsprojektg1 ergeben sich mindestens zwei Erklärungsansätze: Lebenslanges Lernen wird weitgehend als individuelle Verantwortung gerahmt, auch für Personen mit geringen finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Zum anderen zeigt sich, dass in Betrieben mehrere Diskurse das Fehlen von Weiterbildung und Personalentwicklung von Personen in AofQ legitimieren und dies, trotz Personalmangel, kaum als betriebliche Aufgabe wahrgenommen wird.
1 Einleitung
Dem aktuellen Personalmangel im Schweizer Arbeitsmarkt soll mit dem Konzept des lebenslangen Lernens begegnet werden, u.a. mit einer Intensivierung der Qualifikations- und Bildungsanstrengungen bei Geringqualifizierten (Schweizer Bundesrat, 2021). Auch das Schweizer Weiterbildungsgesetz (WeBig) positioniert die Weiterbildung als Teil des lebenslangen Lernens (Art. 1). Dabei soll die Chancengleichheit, etwa die Gleichstellung der Geschlechter und die «Integration von Ausländerinnen und Ausländern», verbessert sowie die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in der Erwerbsarbeit berücksichtigt werden (Art. 8). Trotz bisheriger und geplanter Massnahmen (SBFI, 2019) hat sich die ungleiche Weiterbildungsteilnahme zwischen gut- und geringqualifizierten Personen verschärft. Geringqualifizierte haben eine um 44% geringere Wahrscheinlichkeit an Weiterbildungen teilzunehmen gegenüber Personen mit einer über die Schulpflicht hinausgehenden Ausbildung (SKBF, 2018, S. 287). 36,3% der im Tieflohnsektor Beschäftigten verfügen über keinen formalen Berufsabschluss (BFS, 2024b). Die OECD empfiehlt der Schweiz, für eine nachhaltige Entwicklung der Ökonomie die Weiterbildung von Personen im Tieflohnsektor zu verbessern (OECD, 2021, S. 233). 10,5% der Arbeitnehmenden in der Schweiz sind in einer Tieflohnstelle beschäftigt, davon sind zwei Drittel Frauen (insg. 16% der erwerbstätigen Frauen gegenüber 8,7% der Männer, BFS, 2024a). Personen ohne Schweizer Pass machen 53% der Beschäftigten in Tieflohnstellen aus (BFS, 2024b).
In diesem Beitrag gehen wir dem Widerspruch zwischen Forderungen nach lebenslangem Lernen und der geringen Weiterbildungsteilnahme von Beschäftigten an Arbeitsplätzen ohne formale Qualifikationsanforderungen (AofQ)2 nach. Ausgehend von den Ergebnissen zweier Forschungsprojekte3 fragen wir, wie Betriebe das weitgehende Fehlen von Weiterbildungsteilnahme und -angeboten4 in AofQ erklären und rationalisieren.
2 Theoretische Verortung
2.1 Lebenslanges Lernen als Dispositiv
Lebenslanges Lernen ist seit den 1990er Jahren eine wichtige Maxime der Bildungspolitik in Europa, mit der die Förderung der Erwachsenenbildung sowie die sogenannte Bildungsexpansion gerahmt wurde (Baethge/Baethge-Kinsky, 2004). Seit geraumer Zeit gilt lebenslanges Lernen als «bildungspolitische Leitidee» (Europäische Kommission, 2010), um Dringlichkeiten im Kontext der Transformation der Arbeit zu bewältigen. Niels Spilker (2013) hat lebenslanges Lernen aus machttheoretischer Sicht als Dispositiv analysiert, das die Verantwortung des kontinuierlichen Lernens bzw. der eigenen Arbeitsmarktfähigkeit an die Individuen delegiert. Als Dispositiv bezeichnet Foucault (1978: 199f.) ein weites Netz bestehend aus Gesetzen, Diskursen, Institutionen oder administrativen Massnahmen, das eine machtvolle Steuerungsfunktion entfaltet. Dispositive bestehen nicht nur aus expliziten normativen Programmatiken, sondern werden auch in Alltagspraktiken bestätigt und wiederholt, wie beispielsweise betriebliche Angebote und Diskurse zu Weiterbildung (Spilker, 2013, S. 62ff.).
Die Förderung der Weiterbildung als lebenslanges Lernen soll gemäss Bildungsbericht Schweiz das öffentliche Interesse, die «Chancengerechtigkeit» und den «Wettbewerb» unterstützen (SKBF, 2018, S. 290). Wir wollen hier die Aspekte des Wettbewerbs und der Chancengerechtigkeit hervorheben. Der Wettbewerb wird durch Chancengerechtigkeit nur so weit eingeschränkt, als der Wettbewerb ‹spielen› kann, d.h. dass institutionelle Startbedingungen für alle gleich sein sollen. Im Dispositiv des lebenslangen Lernens wird der Begriff der Gerechtigkeit nicht zufällig mit dem der Chancengerechtigkeit ersetzt. Diese postuliert im Gegensatz zur sozialen Gerechtigkeit lediglich möglichst ähnliche Rahmenbedingungen, setzt sich aber nicht mit materieller Gerechtigkeit auseinander (Spilker 2013, S. 103).
2.2 Soziale Ungleichheiten und Weiterbildungsteilnahme
Bei der Weiterbildungsteilhabe in der Schweiz zeigen sich erhebliche Unterschiede, wobei soziostrukturelle Merkmale, aber auch arbeitsmarktpolitische und institutionelle Rahmenbedingungen entscheidend sind. Während sich nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen, sind die Unterschiede nach Bildungsabschluss umso grösser. Nur 16% der Personen ohne über die Schulpflicht hinausgehende Ausbildung beziehen eine vom Arbeitgeber unterstützte beruflich orientierte Weiterbildung, dagegen 60% der Personen mit Hochschulabschluss (BFS, 2024c). Auch Personen der ersten Einwanderungsgeneration sind mit 37% stark untervertreten (BFS, 2024c). Die Intersektion mehrerer sich negativ auf die Weiterbildungsteilnahme auswirkender soziostruktureller Merkmale produziert deutliche Ausschlüsse: Nur 29% der Frauen der ersten Einwanderungsgeneration mit obligatorischem Schulabschluss nehmen an einer Weiterbildung teil (BFS, 2018c).
Mehrere Ansätze erklären die ungleiche Weiterbildungsteilnahme, so beispielsweise die Humankapitaltheorie. Sie verweist auf die von den Betrieben antizipierten Weiterbildungsrenditen: die gegenwärtigen zeitlichen und finanziellen Investitionen werden dem zukünftigen betrieblichen Nutzen der Weiterbildung gegenübergestellt. Aufgrund der ungewissen Kosten-Nutzen-Überlegung stützen sich Bildungsverantwortliche auf unvollständige Annahmen, wie etwa zur Lebensführung, Lernfähigkeit oder Produktivität einzelner Arbeitnehmender. Daher fungieren stereotype Annahmen aufgrund von Bildung, Geschlecht, Herkunft oder Alter als implizite Selektionskriterien für Weiterbildungsinvestitionen (Becker, 2017).
Entgegen dem sozialpolitischen Anspruch funktioniert Weiterbildung also weiterhin nicht als Instrument der Angleichung von Bildungsungleichheiten, denn «Weiterbildungschancen kumulieren sich bei denjenigen, die in solchen Arbeitsmärkten beschäftigt sind, in denen schon ausgeprägte Qualifikationen nachgefragt werden, vorteilhafte Arbeitsbedingungen und Karrierechancen geboten werden und das Weiterbildungsangebot hochgradig institutionalisiert ist» (Becker, 2017, S. 416).
2.3 Institutionalisierte Machtgefüge
Die Rolle der Betriebe und ihre personalpolitischen Praktiken sind zentral für die gruppenspezifische Zuweisung zu Arbeitsstellen mit mehr oder weniger Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Geschlechterforschung hat aufgezeigt, dass sich diese betrieblichen Prozesse und individuellen erwerbsbiografischen Entwicklungen in der vergeschlechtlichten und kulturalisierten Arbeitsteilung ereignen und diese zugleich reproduzieren (Wetterer, 2017; Kollender/Kourabas, 2020). Anknüpfend an die für die Ungleichheitsforschung zentrale These der «doppelten Vergesellschaftung» von Frauen in der Erwerbsarbeit und unbezahlter Familienarbeit (Becker-Schmidt, 2004) schlägt u.a. Gutiérrez Rodríguez (1999) ein Modell «dreifacher Vergesellschaftung» vor. Es beschreibt das jeweilige Zusammenwirken von Geschlechterdifferenz, Klassenverhältnissen und Nationsstaatlichkeit und führt eine postkoloniale Kritik in die Analysen der Vergesellschaftung ein (ebd.: S. 39). Diese auch gegenwärtig auszumachenden Ungleichheitsverhältnisse – etwa die deutliche Übervertretung von Frauen und Ausländer:innen im Tieflohnsektor – werden in Betrieben laufend verdeckt bzw. legitimiert.
3 Empirische Ergebnisse: Betriebliche Legitimationsdiskurse
Im Folgenden wird anhand von drei zentralen Deutungsmustern aufgezeigt, wie Personalverantwortliche und Führungspersonen das Fehlen betrieblicher Weiterbildung für Beschäftigte an Arbeitsplätzen ohne formale Qualifikationsanforderungen rationalisieren und damit Ungleichheitsverhältnisse und Machtstrukturen stabilisieren.
a. «Einfache Leute» machen «einfache Arbeit»
In den AofQ bestehen Arbeitsbereiche, die sich aus Sicht der Führungspersonen kaum verändern, wie die Aussage einer Führungsperson einer Stadtreinigung zeigt:
«Einfache Arbeit, die wird auch immer einfach bleiben […] da kann man nicht viel ändern, also wischen bleibt wischen, Dreck bleibt Dreck.» (SR_1_1_FK: 41)
Auch eine Führungsperson einer Wäscherei sieht aufgrund immer gleicher Tätigkeiten kein Bedürfnis nach Weiterbildungsmassnahmen:
«Ne, da ist kein Bedarf, also ich wüsste nicht wofür, eben weil ungelernt, und die sollen eigentlich nur sortieren, machen, tun und da muss man ja auch nichts schulen oder weiterbilden.» (W_2_1_ FK: 150)
Fehlende Weiterbildungsangebote werden hier einerseits durch eine Charakterisierung der ‹einfachen›, sich nicht verändernden Arbeitstätigkeit begründet, andererseits dadurch, dass Beschäftigte «ungelernt» seien. Da «ungelernt» explizit als Begründung angeführt wird, ist davon auszugehen, dass von der fehlenden Ausbildung auf eine fehlende Weiterbildungsfähigkeit geschlossen wird.
Der Fokus auf körperliche, sich wiederholende Arbeit verengt die Charakterisierung der AofQ und verdeckt, dass die Beschäftigten durchaus Verantwortung tragen und einen Anspruch haben, ihre Tätigkeit professionell auszuführen, aber auch dass unter ihnen zahlreiche Personen Ausbildungen absolviert haben. Diese Verengung der Tätigkeit wird auf die Beschäftigten übertragen. So beschreibt eine Führungsperson die Tätigkeiten als «einfache Arbeit» und folgert, dass die Beschäftigten «auch ein bisschen einfache Leute» seien und «froh, wenn sie nichts denken müssen» (SR_1_1_FK: 181). Die Trennung von Kopf- und Körperarbeit reproduziert die Vorstellung tayloristischer Arbeitsteilung, nach der Produktionsprozesse effizienter und kostengünstiger gestaltet werden sollten. Damit erscheinen Bildungsinvestitionen in «ungelernte» Arbeitskräfte, deren Arbeitstätigkeit scheinbar kein Denken beinhaltet, selbst mit Blick auf aktuelle oder anstehende Veränderungen der Arbeit als unnötig. Die Dethematisierung von Lernen und beruflichen Laufbahnen impliziert auch einen Verbleib der Beschäftigten im Status der ‹migrantischen Anderen› (Kollender/Kourabas, 2020). Damit wird jener Diskurs fortgesetzt, der mit dem Konzept der ‹Gastarbeit› eingeführt wurde und allein die «ökonomistische Nutzbarmachung» der Arbeitskraft zum Ziel hat (ebd.: S. 88).
b. «Familienmütter»: Kulturalisierte und vergeschlechtlichte Arbeitskräfte
Neben den Zuschreibungen an Beschäftigte aufgrund der ‹einfachen› Tätigkeit lassen sich v.a. auch vergeschlechtlichte und kulturalisierte Zuschreibungen identifizieren. So werden migrantische Personen als passend für Tätigkeiten beschrieben, für die keine Kenntnisse der Landessprachen gefordert werden: «Es muss nicht jeder Deutsch verstehen. Es gibt sehr viele Mitarbeiter, die arbeiten wie Maschinen, die sind sehr gut» (LO_1_3_FK: 101). Diese diskursive Gleichsetzung von migrantisierten Personen mit Maschinen zeigt ihre Ersetzbarkeit auf. Fehlende Sprachkenntnisse werden nicht als Bildungsaufgabe, sondern als grundsätzliche Hürde für Bildung gedeutet: «Die Hemmschwelle und Barrieren sind meistens die sprachlichen Schwierigkeiten, also wenn jemand kein Deutsch kann, dann ist er auch wenig bildungsfähig» (LM_1_HR: 316). Das dominierende Narrativ des Sprachdefizits legitimiert nicht nur die Zuweisung von Migrant:innen in AofQ, sondern auch die Abwesenheit von Weiterbildungsmöglichkeiten.
Über den kulturalisierten und vergeschlechtlichten Körper werden Zuschreibungen der Betriebe hinsichtlich besonderer physischer und charakterlicher Dispositionen der Beschäftigten für bestimmte Tätigkeiten deutlich. Ein Elektronikhersteller rekrutiert für Aufgaben, die «eine ruhige Hand» benötigen, v.a. Frauen aus Thailand: «Wie gesagt, die ganz feinen Arbeiten machen meistens Frauen aus Thailand, also die sind wirklich sehr ruhig und können das gut und machen das auch gerne» (E_1: 120). Die monotone Tätigkeit wird nicht als Herausforderung dargestellt, sondern gleich doppelt als passgenau für «Frauen aus Thailand» rationalisiert – hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Vorlieben. Ein Geschäftsleiter erklärt, die Beschäftigten seien «einfach Familienmütter oder -väter» (W_1_2_HR: 321). Die Familie als Lebensmittelpunkt wird insbesondere bei ausländischen bzw. migrantischen Frauen angeführt. So schliesst eine männliche Führungskraft einer Logistikabteilung den Wunsch nach einer beruflichen Qualifizierung oder verantwortungsvolleren Tätigkeit bei Müttern prinzipiell aus.
Migrantinnen werden als primär familienbezogen beschrieben, während «der Mann ganz andere Ansprüche» habe: «Also als Hauptverdiener will er einen ganz anderen Weg einschlagen» (LO_1_3_FK: 137). Die Zuordnung der Frauen zur privaten Sphäre mit einer gleichzeitigen Abwertung ihrer Erwerbsarbeit als «Nebenverdienst» (UR_1_1_FK: 117) ist bemerkenswert, da viele Frauen im Tieflohnsektor Vollzeit erwerbstätig sind, obwohl in der Schweiz Teilzeitarbeit ein Spezifikum weiblicher Erwerbsarbeit ist. Den Beschäftigten in AofQ werden konservative Paarkonstellationen und Familienmodelle zugeschrieben, was sich auch in einem geschlechtersegregierten Arbeitsangebot niederschlägt.
Mehrfach wird in den Interviews auf die Migrationsgeschichte der Beschäftigten hingewiesen: «Wir haben dort vor allem auch viele Leute aus einem vielleicht bildungsfernen Bereich oder aus Migrationsgründen, die einfach hier versuchen Fuss zu fassen» (OE_1_1_FK: 144). Einerseits wird hier eine Zuschreibung als angeblich «bildungsferne» Klasse vorgenommen. Andererseits betont die Metapher des «Fuss-Fassens» die Bedeutung des Migrationsprozesses für die Beschäftigung in AofQ. Damit wird ein Provisorium behauptet, obwohl Führungspersonen oftmals die lange Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten erwähnen. Dieses zugeschriebene Provisorium scheint implizit das Fehlen beruflicher Entwicklung zu rechtfertigen.
c. «Was muss ich unternehmen, damit ich noch genüge?»
Personalverantwortliche und Führungspersonen betonen die Bedeutung der Eigenverantwortung der Mitarbeitenden in Bezug auf Weiterbildung. Ein Personalverantwortlicher formuliert dies folgendermassen:
«[Jeder Mitarbeiter] muss sich wirklich immer kritisch hinterfragen, genüge ich noch in fünf Jahren? Und wenn nicht, was muss ich unternehmen, damit ich noch genüge?» (LM_2_HR: 144)
Gemäss dieser Aussage sind die Beschäftigten nicht nur für ihre gegenwärtigen, sondern auch zukünftigen Kompetenzen verantwortlich. Die Forderung nach Eigenverantwortung knüpft an den Diskurs der bildungsbasierten Meritokratie an (Becker/Hadjar, 2017, S. 39ff.), der für das Konzept des lebenslangen Lernens charakteristisch ist. Die Inkompatibilität der meritokratischen Vorstellungen mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in AofQ zeigt sich jedoch in der widersprüchlichen Aussage eines Abteilungsleiters eines Logistikbetriebs:
«Das ist, glaube ich, das Schöne an unserem Land, jeder, der möchte, kann. Die Frage ist jetzt einfach, hast du die Möglichkeit, sei das monetär, finanziell, familiär, was auch immer. Kann ich das überhaupt? Oder bleibe ich hier drin? Aber rein am Schluss, wenn ich ein Ziel habe, einen Wunsch habe, dann gibt es immer Möglichkeiten, um den zu verwirklichen.» (LO_1_3_FK: 181)
Die genannten Schwierigkeiten, Weiterbildung in Angriff zu nehmen, führen hier nicht zu einer kritischen Reflexion der Rolle des Betriebs. Vielmehr wird versucht, die widersprüchlichen Aussagen mit einer Wiederholung meritokratischer Überzeugungen aufzulösen und die angebliche Leistungsgerechtigkeit zu betonen. Mit der Forderung nach Eigeninitiative werden die Beschäftigten in AofQ angerufen, wettbewerbsorientiert und selbstoptimierend zu handeln, ungeachtet der fehlenden Ressourcen Zeit und Geld.
4 Schlussfolgerungen und Ausblick
Das bildungspolitische Paradigma des lebenslangen Lernens soll eine Lösung für die geringe Weiterbildungsteilnahme in AofQ bieten. Doch es ist das Dispositiv des lebenslangen Lernens selbst, das soziale Ungleichheiten rationalisiert. Die Diskurse des Wettbewerbs, der Chancengerechtigkeit und Meritokratie sind dabei zentrale Deutungsmuster zur Legitimation und Normalisierung von Klasse sowie der vergeschlechtlichten und kulturalisierten Arbeitsorganisation.
Ein zentraler Diskurs zur fehlenden Weiterbildungsteilnahme ist die Definition und Abwertung der Tätigkeiten als ausschliesslich körperliche Arbeit und als Gegensatz zu wissensorientierter Arbeit. In diesem Kontext ist auch das dominante Narrativ des Sprachdefizits zu deuten. Dieser Diskurs ist verhängnisvoll, da mit der grundsätzlichen Feststellung fehlender Sprachkenntnisse den Beschäftigten die Voraussetzung und das Interesse an Lern- oder Weiterbildungsangeboten abgesprochen und zugleich deren verbreitete Mehrsprachigkeit ausgeblendet wird.
Die in den Interviews postulierte Eignung (migrantischer) Frauen für schlecht bezahlte, monotone und körperlich belastende Tätigkeiten problematisiert weder ökonomische Abhängigkeiten noch strukturelle Ungleichheitsverhältnisse. Der wirkmächtige Mythos der Meritokratie legitimiert die ungleichen Einkommens- und Arbeitsverhältnisse sowie die fehlende Weiterbildung als Ergebnis individueller Handlungsoptionen. Wettbewerb ist nicht nur Rahmenbedingung der Betriebe, sondern wird als Selbststrategie zur Pflege der Arbeitsmarktfähigkeit auf das Individuum übertragen. Die damit vorausgesetzte Leistungsgerechtigkeit (Becker/Hadjar, 2017) entproblematisiert die Ungleichheit. Gleichzeitig entlässt der Imperativ des eigenverantwortlichen lebenslangen Lernens die Betriebe wie auch den Staat weitgehend aus der Verantwortung.
Unter bestimmten Bedingungen investieren Betriebe jedoch auch in die Weiterbildung unterrepräsentierter Beschäftigtengruppen. Ausgeprägte betriebliche Solidaritätsnormen, eine starke betriebliche Interessenvertretung, Fachkräftemangel sowie betriebliche und überbetriebliche Weiterbildungsregelungen wirken sich förderlich auf die Weiterbildungsunterstützung in Betrieben aus (Wotschak & Solga, 2014, S. 391). Dies zeigt sich auch in den untersuchten Betrieben durch branchenweite Gesamtarbeitsverträge in der Unterhaltsreinigung sowie in der Hauswirtschaft des städtischen Spitexdienstes. Die Gesamtarbeitsverträge thematisieren beispielsweise Fragen der Partizipation (Küng, 2024), der branchenweiten Finanzierung des Weiterbildungsangebots sowie der Vermittlung von transferierbarem, lohnrelevantem Wissen. Ob Betriebe die Weiterbildungsunterstützung auch für Beschäftigte in AofQ wahrnehmen, hängt somit von arbeitspolitischen Rahmenbedingungen, geeigneten Bildungsangeboten, erleichterten Übergängen ins schweizerische Bildungssystem, aber auch von der Reflexion betrieblicher Diskurse über die interne Weiterbildungspraxis ab.
- Dieser Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Artikels, der 2022 in der Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management mit Thomas Geisen, Benedikt Hassler und Lea Widmer erschienen ist (vgl. Amstutz et al., 2022).
- Wir greifen auf Daten zum Tieflohnsektor sowie Geringqualifizierten zurück, da Daten zu AofQ in der Schweiz nicht systematisch erhoben werden. Die Tätigkeiten in AofQ können meist nach kurzer, tätigkeitsbezogener Einarbeitung ausgeübt werden, weshalb sie niedrige Zugangsbarrieren aufweisen (Hassler et al., 2019).
- Ein Subprojekt (2015–2017) unternahm kleinere Betriebsfallstudien in sechs Betrieben aus der verarbeitenden Industrie. Das zweite, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte Forschungsprojekt (2019–2022) untersuchte acht Grossunternehmen aus dem Dienstleistungssektor.
- Wir verstehen Weiterbildung gemäss BFS als «institutionalisierte, bewusste und von einem Bildungsanbieter geplante Bildung ausserhalb des formalen Bildungssystems» (BFS, 2018b: S. 6).
Literatur
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Amstutz, Nathalie; Küng, Lea; Geisen, Thomas; Hassler, Benedikt; Wenger, Nadine; Widmer, Lea (2022): Lebenslanges Lernen? Vergeschlechtlichte und kulturalisierte Legitimationsdiskurse zur Abwesenheit von Weiterbildung im Tieflohnsektor. Zeitschrift für Diversitätsforschung und-Management, 7(2), S. 188–201.
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