Wie steht es um die Weiterbildungsforschung in der Schweiz? Gespräch mit Prof. Dr. Erik Haberzeth
Erik Haberzeth war von 2016 bis 2024 Inhaber der Professur für Höhere Berufsbildung und Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) und damit Leiter einer der wenigen Professuren in der Schweiz, die auf Weiterbildungsforschung fokussiert sind. Seit rund zwei Jahren ist er als Ordentlicher Professor für Erwachsenenbildung an der Technischen Universität Chemnitz tätig. In diesem Gespräch blickt er auf seine Erfahrungen in der Schweiz zurück, vergleicht die Situation und den Stellenwert der Weiterbildungsforschung in der Schweiz und in Deutschland und reflektiert über den Wert von wissenschaftlichem Wissen für die Praxis der Weiterbildung.
Interview: Irena Sgier
Wenn Sie auf Ihre Zeit in der Schweiz zurückblicken: Wie haben Sie diese als Wissenschaftler erlebt?
Es war erstmal eine gehörige Umstellung. Wenn man, so wie ich, aus dem universitären Umfeld Deutschlands kommt und auf eine Professur berufen wird, erwartet man legitimerweise, dass es eine gewisse personelle und sachliche Ausstattung gibt und man auch Leitungsaufgaben hat. Die Ausstattung war aber minimal. So hatte ich zum Beispiel keine eigenen, haushaltsfinanzierten Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter, die finanziellen Mittel waren gering. Es gibt an der PHZH generell keine Lehrstühle als organisatorische Einheiten mit dem Lehrstuhlinhaber oder der Lehrstuhlinhaberin und einigen Mitarbeitenden, die letztlich in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Da gibt es Professuren und diese sind im Grossen und Ganzen, was die Ausstattung anbelangt, nackt. Das führt, glaube ich, bereits zu einer Erdung oder auch Entheroisierung: Man ist nicht der herausgehobene Professor mit Mitarbeiterstab, sondern reiht sich in ein Tableau verschiedener Personalkategorien ein. Die Meinung des Professors wird angehört und auch sehr wertgeschätzt, aber es gibt eben auch andere berufliche Positionen mit eigenen Sichtweisen. Dabei muss man wissen, dass sich die Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz als Professionshochschulen verstehen, die sich in besonderem Masse um die praxisbezogene Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen kümmern. Entsprechend sind dort deutlich mehr Personen in der Aus- und Weiterbildung tätig als in der Forschung, auch wenn Letztere inzwischen erheblich ausgebaut wurde.
Wie hat diese «Erdung» in der Schweiz Ihre Arbeit beeinflusst?
Diese Erfahrung beeinflusst mich bis heute stark, in einem sehr positiven Sinn. Ich habe in dem Umfeld, in dem ich tätig war, eine hohe Wertschätzung der Wissenschaft erlebt. Es war aber nicht so, dass die wissenschaftliche Tätigkeit signifikant höher gewertet worden wäre als etwa die Tätigkeit der Planung, Organisation und Durchführung von Weiterbildungsangeboten. Man anerkennt natürlich die Unterschiede, was das notwendige Wissen und Können anbelangt, aber beides wird als sehr wertvoll angesehen und nicht hierarchisiert. Wissenschaft und Praxis agieren auf Augenhöhe. Entsprechend erlebt man Anerkennung für seine Wissenschaft, lernt aber, andere Praxisfelder keineswegs als defizitär wahrzunehmen, sondern einen Austausch auf Augenhöhe zu pflegen und sich gegenseitig anzuerkennen. Das ist eine gute Erfahrung, die ich in der Schweiz gemacht habe und die ich jedem Wissenschaftler empfehlen kann. Ich will nicht pauschalisierend sagen, dass es in Deutschland ganz anders ist. Aber dennoch: An deutschen Universitäten wird zwischen wissenschaftlichem Wissen und Praxiswissen zumeist doch deutlicher hierarchisiert.
Sie haben eine positive Haltung gegenüber der Wissenschaft erlebt. Man muss aber auch sagen, dass es in der Schweiz kaum Erwachsenenbildungswissenschaft gibt. In der Deutschschweiz gab es zu Ihrer Zeit neben Ihrer eigenen Professur an der PHZH nur eine weitere Professur für Erwachsenenbildung. An den Universitäten gab es keine einzige Professur auf diesem Gebiet.1 Die Situation in Deutschland sieht da ganz anders aus.
Ja, das ist eine wichtige Frage: Wie ist die Weiterbildungsforschung in der Schweiz einzuschätzen? Ich muss sagen, dass der Zustand der Weiterbildungsforschung in der Schweiz sehr unbefriedigend ist. Es fehlt die universitäre und hochschulische Verankerung der Erwachsenenbildung als wissenschaftliche Disziplin.
In der Schweiz gibt es nur sehr wenige Personen, die sich wirklich vertieft und dauerhaft der Weiterbildungsforschung verschrieben haben. Sonst gibt es ein paar Personen, die punktuell an Projekten mit Weiterbildungsbezug arbeiten und sich danach wieder anderen Gebieten zuwenden. Ich glaube, es gibt in der Schweiz nicht viele Personen, die eine Identität als Erwachsenenbildungsforscher oder -forscherin haben. Ich will Deutschland nicht zu sehr loben, aber in Sachen Weiterbildungsforschung würde ich wirklich sagen, dass Deutschland der Schweiz weit voraus ist. Hier gibt es zahlreiche Erwachsenenbildungsprofessuren, entsprechende Mitarbeitende, wissenschaftlicher Nachwuchs, Dissertationen und insgesamt eine recht grosse Forschungscommunity. Diese fehlt in der Schweiz fast komplett, muss man sagen.
Positiv erwähnen möchte ich an dieser Stelle aber die Rolle des SVEB. Der setzt sich stark dafür ein, die Weiterbildungsforschung voranzubringen und führt auch selbst Forschungs- und Entwicklungsprojekte durch.
Einige der Bemühungen, die der SVEB in den letzten zehn Jahren in Bezug auf die Weiterbildungsforschung geleistet hat, fanden in Kooperation mit Ihrer Professur an der PHZH statt.
Ja, dazu gehört die Neukonzeption der Fachzeitschrift Education Permanente (EP), die auch heute noch bestehende Tagungsreihe «Weiterbildung in Forschung und Praxis» und das Netzwerk Weiterbildungsforschung. Und gerade in diesen Initiativen hat sich das Defizit der Schweizer Weiterbildungsforschung am deutlichsten gezeigt: Sowohl für das wissenschaftsbasierte Dossier der EP als auch für die jährlichen Tagungen waren wir sehr stark auf Beiträge der Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland angewiesen – teilweise auch aus Österreich.
Wir haben uns ja immer bemüht, auch in der Schweiz fündig zu werden, aber das war meistens schwierig. Auf die beiden Professorinnen Katrin Kraus (damals Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW), heute Universität Zürich) und Ulla Klingovsky (PH FHNW) konnten wir immer zählen, aber auch sie hatten nur beschränkte Mittel für Weiterbildungsforschung.
Und sie stammen beide ursprünglich aus Deutschland.
Ja. Personen, die an einer Schweizer Hochschule ausgebildet worden wären und in der Schweiz einen Lehrstuhl für Erwachsenenbildungswissenschaft hätten, gab – und gibt es weiterhin – nicht.
Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf für die Weiterbildungsforschung in der Schweiz?
Aufgrund der erwähnten Situation können in der Schweiz viele Forschungsfelder im Bereich der Erwachsenenbildung – angefangen beim Lernen Erwachsener über professionelles Handeln und Organisationen bis zu Finanzierung und Politik – überhaupt nicht bearbeitet werden. Dabei erreicht kein Bildungsbereich so viele Menschen wie die Erwachsenen- und Weiterbildung. Und kein anderer Bereich begleitet uns über die Lebensspanne hinweg so lange wie die Weiterbildung. Ich habe schon den Eindruck, dass dies in der Schweizer Bildungspolitik – und auch in der Wissenschaft – immer noch nicht angekommen ist. Teilweise scheint man sich sogar in der Bildungspraxis nicht bewusst zu sein, dass die Weiterbildung eigentlich, was bspw. die Teilnehmendenzahlen oder die Anzahl der Organisationen anbelangt, ein riesiges Feld ist. Die Bedeutung der Erwachsenenbildung müsste in der Schweiz stärker ins Bewusstsein treten.
Die Rolle, die ein Bildungsbereich in Praxis, Wissenschaft und Politik spielen kann, hat auch mit der Finanzierung zu tun. Wie schätzen Sie die Situation in der Schweiz in dieser Hinsicht ein?
Die Finanzierungssituation kenne ich nicht im Detail. Aber ich habe den Eindruck, dass das Prinzip der Subsidiarität zu stark dominiert. Subsidiarität ist kein Wundermittel. Wenn ich versuche, meinen Studierenden das Prinzip der Subsidiarität zu erläutern, verweise ich immer auf das Schweizer Weiterbildungsgesetz: Dieses Prinzip bedeutet, dass der Staat nur dann eingreift, wenn Schwierigkeiten auftauchen, die das Weiterbildungsfeld – bzw. «der Markt» – nicht selbst lösen kann. In dem Gesetz steht unter Artikel 5, der einzelne Mensch trage die Verantwortung für seine Weiterbildung. Arbeitgeber und staatliche Stellen sollen gemäss diesem Gesetz nur ergänzend aktiv werden.
Man muss sich klarmachen, dass da tatsächlich Bildung – und auch die Definition dessen, was an Bildungsangeboten notwendig ist – fast komplett dem Markt überlassen wird. Der Weiterbildungsbereich gestaltet sich also ohne staatlichen und damit ohne demokratischen Einfluss. Eine solche Situation wäre in den anderen Bildungsbereichen undenkbar. Man kann sich nicht vorstellen, dass etwa die obligatorischen Schulen oder die Hochschulen einfach dem Markt überlassen würden. Aber in der Weiterbildung ist das der Fall, und dann wird gesagt: Der Markt funktioniert. Woran man das festmacht, wird allerdings nicht gesagt.
Sie meinen, die Aussage, dass der Markt funktioniere, ist eine Behauptung, die gar nie überprüft wurde?
Das würde ich so sagen, ja. Es ist durchaus möglich, dass einiges nicht funktioniert. Wenn man sich bspw. die Entwicklung der Beteiligung ansieht, zeigt sich in den letzten Jahren eine rückläufige Tendenz. Auch die sozialen Disparitäten in der Beteiligung sind nicht kleiner geworden, sondern im Gegenteil eher noch gewachsen.
Vielleicht müsste man sich auch fragen, ob das Angebot ausreichend und passend ist. Das lässt sich möglicherweise nicht so einfach feststellen. Aber es könnte gut sein, dass es im Angebot und in der Förderung Lücken gibt. Kritisch betrachten müsste man zudem die Finanzierung. Weiterbildung kann auch für Personen, die einigermassen gut verdienen, eine grosse finanzielle Belastung sein.
Weitere Themen, die man sich genauer ansehen könnte, wenn man wirklich wissen wollte, wie gut dieser Markt tatsächlich funktioniert, wären die Transparenz, die Qualität oder auch die Verwertbarkeit von Weiterbildung.
Ich möchte nicht behaupten, dass der Weiterbildungsmarkt als Ganzes nicht funktioniere. Was ich in meinen Jahren in der Schweiz festgestellt habe, ist einfach, dass es keine Analysen und keine fundierte Diskussion darüber gibt, inwiefern dieser Markt funktioniert und was vielleicht auch nicht funktioniert. Teilweise diskutiert wird dies einzig in Bezug auf Beteiligungsquoten, aber auch da ohne differenzierte Analysen.
Was bräuchte es, damit eine solche Diskussion besser oder überhaupt geführt würde?
Ich denke, es bräuchte erst einmal eine höhere gesellschaftliche Anerkennung für die Weiterbildung sowie ein Bewusstsein dafür, wie wichtig Lifelong Learning ist und welchen Nutzen es bringt. Ausserdem bräuchte es ein stärkeres Problembewusstsein statt der blossen Behauptung, dass der Markt funktioniere.
Diese Bedingungen wären wahrscheinlich auch notwendig, damit die Hochschulen Professuren etablieren und die Weiterbildung an den Hochschulen besser verankern würden. Die Professur, die ich an der PHZH hatte, wurde übrigens nicht eingerichtet, weil die Hochschule sie für gesellschaftlich besonders notwendig gehalten hätte, sondern weil mit Geri Thomann ein Zentrumsleiter da war, der der Weiterbildungsforschung eine hohe Bedeutung beimass und seinen Spielraum klug genutzt hat, um die Professur aufzubauen. Seit meinem Wegzug ist die Professur vakant.
Warum sind Professuren für Weiterbildung so wichtig?
Sie sind eine Bedingung dafür, dass in diesem Bildungsbereich kontinuierlich geforscht wird und sich eine wissenschaftliche Community bilden kann. Das wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass die Wissenschaft in der Lage ist, auf Problembereiche aufmerksam zu machen und präzise Fragen zu generieren, die dann auch mit Blick auf die Entwicklung der Praxis wissenschaftlich bearbeitet werden können.
Wir haben ja mit unserem Netzwerk Weiterbildungsforschung erlebt, wie schwierig es ist, Personen zu finden, die dauerhaft in der Weiterbildungsforschung aktiv sind. Die meisten Personen, die im Netzwerk ihre Forschung vorstellen, arbeiten nur punktuell an Projekten mit Bezug zur Weiterbildung. Wenn man sie ein halbes Jahr später wieder kontaktiert, erforschen sie oft ganz andere Themen und sind kaum mehr an einem Austausch zu Weiterbildungsforschung interessiert. Unter diesen Bedingungen kann keine wissenschaftliche Community entstehen.
Das ist in Deutschland schon sehr anders. Da werden auch mal ad hoc Netzwerke gegründet, die sich dann über viele Jahre mit einem Thema auseinandersetzen. Damit kann die Wissenschaft aktuelle Entwicklungen in einer Weise aufgreifen und begleiten, wie das in der Schweiz für die Weiterbildung nicht möglich ist.
Welche Rolle spielt die Wissenschaft in Bezug auf die Personen, die Angebote konzipieren und Lernprozesse begleiten oder Institutionen leiten?
Da sehe ich auch einen hohen Wert des wissenschaftlichen Wissens. Sich wissenschaftliches Wissen zu erarbeiten, versetzt einen in die Lage, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und vielleicht auch Innovationen anzustossen. Auf der Ebene des professionellen Handelns hilft wissenschaftliches Wissen im Übrigen auch, um die eigene Position als Erwachsenenbildner oder Erwachsenenbildnerin zu stärken und zu verteidigen, bspw. in Auseinandersetzung mit anderen Berufsgruppen. Wenn ich bspw. als Pädagoge in einem Unternehmen mit Wirtschaftswissenschaftlern oder Juristinnen zu tun habe, muss ich pädagogisch gut argumentieren können, und dafür ist wiederum wissenschaftliches Wissen sehr wertvoll.
Auch hier gibt es grosse Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz. Während wir in Deutschland eine akademische Professionalisierung haben, verfolgt die Schweiz primär einen berufspraktischen Professionalisierungsansatz. Das ist aus meiner Sicht durchaus eine Stärke des Schweizer Systems. Trotzdem finde ich es dringend notwendig, ergänzend dazu auch die akademische Professionalisierung auszubauen. Dazu bräuchte es aber natürlich Lehrstühle und Professuren an den Hochschulen.
Was würde mehr akademische Professionalisierung den Weiterbildungsanbietern bringen?
Die Einrichtungen leisten sehr gute, professionelle Arbeit und sind auch innovativ. Ich schätze die Weiterbildungsanbieter in der Schweiz sehr. Trotzdem glaube ich, dass es den Einrichtungen gut täte, wenn sie auch akademisch im Bereich Erwachsenenbildung gut ausgebildetes Personal zur Verfügung hätten. Diese Personen bringen aufgrund ihrer Ausbildung einen fundierten wissenschaftlichen und kritischen Blick mit sowie die Fähigkeit, von der konkreten Praxis zu abstrahieren und die Bildungsarbeit auf ein anderes Reflexionsniveau zu bringen. Ohne akademische Professionalisierung ist dies deutlich schwieriger, weil die Begriffe, Theorien und Konzepte fehlen. Hilfreich für die Praxis ist neben dem theoretischen auch empirisches Wissen darüber, was erforscht wird und welche Ansätze sich da entwickeln.
Ich plädiere nicht dafür, den berufspraktischen Ansatz durch die akademische Professionalisierung zu ersetzen, sondern dafür, die in der Schweiz bisher fehlende akademische Professionalisierung als Ergänzung zum berufspraktischen Ansatz aufzubauen.
Das fehlende akademische Wissen war mit ein Grund, warum wir die EP im jetzigen Konzept aufgebaut haben.
Ja, damit versuchen wir, die Praxis mit wissenschaftlichem Wissen zu unterstützen, bspw. mit einer Ausgabe zum Thema Beteiligung. Was in jenem Heft steht, sind Konzepte und Forschungsergebnisse, die dazu beitragen, Beteiligung differenzierter zu verstehen und bspw. zu erkennen, wie sie zustande kommt – statt Beteiligung einfach mit der Nachfrage gleichzusetzen, wie dies in der Praxis teilweise der Fall ist. Ich empfinde es als Mangel der schweizerischen Weiterbildung, wenn man solche Diskussionen nicht führen kann, weil es an entsprechendem Wissen mangelt. Mit der EP haben wir einige grundlegende Ansätze und Konzepte aufgegriffen, die für Diskussionen und Entwicklungen im Praxiskontext hilfreich sein können.
Wie steht es um die Rolle der Wissenschaft in Bezug auf die Bildungspolitik? Das gegenwärtige Sparpaket des Bundesrates enthält den Vorschlag, die Weiterbildungsförderung in der Schweiz praktisch abzuschaffen.
Wenn man politisch angegriffen und Bildung gekürzt oder abgebaut wird, braucht man Argumente, um sich dagegen zu wehren. Wenn also aktuell in der Schweiz darüber diskutiert wird, die finanziellen Mittel zu kürzen, zu streichen oder gleich das ganze Weiterbildungsgesetz abzuschaffen, muss man dagegen argumentieren können. Fundiert kann man das aber heutzutage in einer modernen Gesellschaft eigentlich nur mit wissenschaftlichem Wissen tun. Ohne wissenschaftliches Wissen hat man in dieser Auseinandersetzung schlechte Karten. Natürlich kann man Studien aus Deutschland oder Österreich heranziehen, aber die Weiterbildungssysteme sind unterschiedlich. Um Argumente präzise und gut begründen zu können, wäre es wichtig, dass die Schweiz eigene Forschung hätte, insbesondere, aber nicht nur zu Entwicklungen auf der Systemebene.
In der Schweiz wurden in den letzten Jahren verschiedene Förderprogramme aufgebaut, v.a. im Bereich Grundkompetenzen. Auch diese könnten jetzt wieder abgeschafft werden. Wie beurteilen Sie den Nutzen solcher Programme?
Das ist schwierig zu beurteilen, weil es auch hier an Forschungswissen fehlt. Soweit ich weiss, gibt es zu den Förderprogrammen in der Schweiz weder Begleitforschung noch fundierte Evaluationen. Auch das ist in Deutschland wenigstens teilweise anders. Dort wird bei der Einführung grösserer Förderprogramme die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation in der Regel selbstverständlich mitgedacht. Natürlich gibt es auch in Deutschland Leute, die finden, es gebe zu wenig Begleitforschung, aber man muss auch berücksichtigen, welchen Anspruch man mit der Begleitforschung verfolgt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein aktuelles Beispiel ist die Einführung von sieben Grundbildungszentren in Sachsen. Diese kümmern sich um das zentrale Thema der Grundkompetenzen Erwachsener. Dafür machen wir an der TU Chemnitz die wissenschaftliche Begleitung, und das in einem durchaus angemessenen Umfang. Es ist nicht nur ein kleiner Auftrag von 10’000 Euro, sondern wir konnten eine wissenschaftliche Stelle schaffen, die die Einführung der Zentren während 2,5 Jahren wissenschaftlich begleitet.
In der Schweiz habe ich das so nicht erlebt. Da wurden bspw. in mehreren Kantonen Weiterbildungsgutscheine eingeführt, ohne dass dies wissenschaftlich begleitet und evaluiert worden wäre. Ein anderes Beispiel ist die subjektorientierte Förderung in der höheren Berufsbildung. Soweit mir bekannt ist, wurde auch da keine Begleitforschung gemacht – obwohl es sich um einen grundlegenden Systemwechsel handelte.
Dass kaum zu Weiterbildung geforscht wird, mag teilweise mit dem Mangel an Forschenden zusammenhängen, die ihren akademischen Hintergrund in der Erwachsenenbildung haben. Weiterbildungsfragen werden aber auch in anderen Disziplinen erforscht, bspw. in der Soziologie, der Psychologie oder in den Wirtschaftswissenschaften. Was ist spezifisch an der Perspektive der Erwachsenenbildung?
Den anderen Disziplinen fehlt ein bildungstheoretischer Blick, und sie vertreten oft andere Menschenbilder als die Erziehungswissenschaft. Die wissenschaftliche Erwachsenenbildung geht vom Menschen aus, vom Subjekt, das versucht, sich die Welt anzueignen und eine Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit zu entwickeln, verbunden mit dem normativen Anspruch der Entfaltung der eigenen Potenziale. Zur Erwachsenenbildung gehört ausserdem eine hohe Reflexionsfähigkeit.
Die Erwachsenenbildung hat bspw. für die Programm- und Angebotsplanung eigene Begriffe dafür entwickelt, was in der Konzeption von Bildungsangeboten getan wird. Zu dieser pädagogischen Tätigkeit gehört u.a. die Überlegung, wie bestimmte Themen Menschen zugänglich gemacht werden können, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen diese Themen stehen und wie sich dies so in Lernangebote übersetzen lässt, dass Menschen darin ihre individuellen Lernbedarfe bearbeiten können. Für diese Arbeit braucht es spezifische Begriffe, Konzepte und Kompetenzen. Ein Wirtschaftswissenschaftler würde diese genuin pädagogische Arbeit vielleicht als Produktmanagement bezeichnen und damit den Kern dieser anspruchsvollen Tätigkeit verfehlen.
Ich muss allerdings sagen, dass manchmal auch die Weiterbildungsanbieter selbst ihre pädagogische Arbeit entwerten, wenn sie bspw. Bildungsangebote als Freizeitangebote bezeichnen. Es tut mir immer weh, das zu hören. Da leistet jemand anspruchsvolle, wertvolle pädagogische Arbeit und bezeichnet das dann selbst als blosses Freizeitangebot.
Wenn Anbieter ihre Bildungsangebote als Freizeitangebote bezeichnen, dürfte es sich meist um Angebote der allgemeinen oder kulturellen Erwachsenenbildung handeln.
Ja, das ist auch mein Eindruck. Da kann es etwa um Gesundheit, Sprachen oder Kreativität gehen. Diese Dinge sind aber kein blosses Freizeitvergnügen. Sie gehören zum gebildeten Menschen dazu und tragen zur Lebensqualität und Zufriedenheit der Menschen bei. Auch hier muss man sagen: Akademisch ausgebildete Erwachsenenbildner würden das kaum so sehen. Sie würden die Angebote als allgemeine Bildung bezeichnen und wären sich des hohen gesellschaftlichen Nutzens dieser Bildung bewusst.
Zum Abschluss möchte ich gern im Sinn eines Ausblicks auf die Weiterbildungsforschung zurückkommen. Wo sehen Sie wichtige Lücken oder Forschungsfelder, die dringend bearbeitet werden müssten?
Da möchte ich zwei Felder nennen: Ein wichtiges Thema der zukünftigen Forschung wird aus meiner Sicht die Programm- und Angebotsentwicklung sein, und in diesem Zusammenhang die Bedingungen von Digitalisierung und KI. Derzeit ist noch nicht klar, welche Auswirkungen KI haben wird und was dies für die Qualität der Weiterbildung bedeutet. Ein wichtiges Forschungsfeld in diesem Zusammenhang ist auch die Professionalisierung.
Ein zweiter Punkt, der mir sehr wichtig scheint, ist die bessere Erforschung der allgemeinen Weiterbildung und das Aufzeigen der wichtigen Rolle, die diese gesellschaftlich gesehen spielt. Die allgemeine Bildung ist auch in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Transformationen von grosser Bedeutung. Sie trägt dazu bei, urteilsfähig und human zu bleiben und nicht in Radikalismus abzudriften. Diese Leistungen der allgemeinen Bildung besser zu erforschen und nachzuweisen, fände ich sehr wichtig, gerade in Zeiten, in denen Bereiche, die vermeintlich keinen unmittelbaren praktischen Nutzen stiften, befürchten müssen, dass ihnen die Mittel gestrichen werden.
- Inzwischen gibt es an der Universität Zürich eine ordentliche Professur für Berufs- und Weiterbildung.