24.05.2022
N°1 2022

Wie wir sprechen oder das Storytelling des Lebens

Sprache dient – unter anderem – der Verständigung. Aber Verständigung ist keine Selbstverständlichkeit, denn die Sprache ist immer stark von der Zeit geprägt, in der die Menschen leben, die sie sprechen. Zu den Eigenheiten der heutigen Zeit gehört eine zunehmende Segmentierung, was zur Folge hat, dass sich Menschen bisweilen nicht verstehen können, obwohl sie dieselbe Sprache sprechen. Wie die Corona-Pandemie zeigt, ist Sprache aber umgekehrt auch in der Lage, bestehende Abgrenzungen ­– etwa jene zwischen der Alltags- und der Fachsprache – mühelos zu überwinden.

In jüngster Zeit mache ich mir oft Gedanken über die stärkere Segmentierung der Gesellschaft, die sich auch in der Sprache zeigt. Verschiedene soziale Gruppen bilden sprachliche Eigenheiten aus, verwenden einen bestimmten Wortschatz. Damit markieren sie Zugehörigkeit und grenzen sich gleichzeitig von anderen ab. Sprache dient als Erkennungszeichen und vermittelt ein Wir-Gefühl. Das ist nicht neu, aber in jüngster Zeit hat sich diese Tendenz verstärkt. So kann es passieren, dass wir Menschen nicht mehr richtig verstehen, die zwar dieselbe Sprache sprechen wie wir, aber sich eines stark ausgeprägten Soziolektes bedienen, der aussen vorlässt, wer damit nicht vertraut ist. Hand aufs Herz, kommen Sie stets mit, wenn Siebzehnjährige zusammen reden? Verstehen Sie die Sprache der LGBTQ-Bewegung, die Codes der eingeschworenen Camper, der Partygängerinnen oder der Gamer? Und wie schnell kommen Sie sich als Outsider:in vor, wenn Sie sich nicht in Ihrer Bubble, also unter Ihresgleichen bewegen? Oder lässt Sie kalt, was mit der Sprache geschieht? «Ich denke, dass einem Menschen kaum etwas anderes ausser dem eigenen Körper als so etwas Eigenes, Vertrautes und Intimes erscheint wie die Sprache. Wir sind kulturelle Wesen und leben in der Sprache wie Fische im Wasser. Solange alles unverändert bleibt, fällt uns das kaum auf. Haben wir aber den Eindruck, dass sich an unserer Sprache, unserem ureigensten Besitz, etwas ändert, was wir nicht wollen, nicht verstehen oder was unseren Sprachgebrauch entwertet, dann kann leidenschaftlicher und zuweilen wütender Widerstand freigesetzt werden.» Das sagt der Sprachforscher Henning Lobin, Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in einem Interview.1

Die Verwendung von Fachsprache in den unterschiedlichsten Gebieten ist unbestritten, auch wenn sie bisweilen den Effekt der Exklusion hat. Gerade die Weiterbildung, scheint mir, unternimmt zu wenig, auch ein nicht akademisch gebildetes Publikum sprachlich zu erreichen. Damit meine ich nicht, dass nun sämtliche fachspezifischen Inhalte in sogenannt einfache Sprache gegossen werden müssen, aber folgende Aussage von Michael Hänsel sollte doch insbesondere für die Weiterbildung gelten: «Gemeinsam ist der Alltagssprache und den Fachsprachen die Funktion der Verständigung von Menschen».2 Die Verständigung der Menschen als Ziel und nicht die Exklusion durch Sprache. 

Die Sprache der Pandemie 

Ein interessantes Beispiel dafür, dass Menschen durchaus in der Lage sind, Ausdrücke aus unterschiedlichen Fachgebieten in die Alltagssprache zu integrieren und anzuwenden, ist die Pandemie. Sie hat nämlich nicht bloss Digitalisierungsprozesse angestossen und beschleunigt – in der letzten EP zum Thema «Kompetenzverschiebungen beim Weiterbildungspersonal» war das in fast allen Beiträgen Thema –, sie hat auch unsere Sprache durchdrungen, erweitert und unsere Kommunikation verändert und geprägt. 

Ein Beispiel: Neulich rief das achtjährige Kind einer Freundin an. «Ich bin genesen», sagte das Mädchen und es klang ganz fröhlich. «Ich muss nun wieder zur Schule», fuhr es fort, «Mama ist nicht mehr in Quarantäne, Papa immer noch im Homeoffice und du kannst uns wieder besuchen. Du bist doch eh geboostert… in deinem Alter.»

Nach dem Telefonat mit der Achtjährigen dachte ich über ihre Ausdrucksweise nach. Sie sprach Schweizerdeutsch und klang dennoch wie eine kleine Expertin. Verwendete ohne zu zögern das Wort «genesen» und auch das Wort «Quarantäne» kam ihr stockungsfrei über die Lippen. Im weiteren Verlauf des Telefonats hat das Kind Begriffe wie Abstandsregeln, Zertifikat, Speicheltest usw. so selbstverständlich verwendet, als wären es Bezeichnungen für Spielzeug. Ich staunte, wie sie innerhalb kurzer Zeit ihren Wortschatz erweitert hatte durch Ausdrücke aus ihr eher fremden Fachgebieten. Aber nicht nur im Kinderzimmer hat dieser erstaunliche Prozess stattgefunden, sondern bei Menschen jedes Alters. Die Pandemie hat nicht nur unseren Alltag geprägt, sondern auch unsere Art zu sprechen und miteinander zu kommunizieren. Ausdrücke wie Social Distancing, Lockdown, Superspreader, Virusvariante, Mutanten und Antigentest gingen uns ganz schnell leicht über die Lippen. Und wer erst nicht verstand, was mit Corona-Party, Corona-Tsunami und, besonders schön, Seuchen-Sheriff gemeint war, informierte sich online oder in den Printmedien über die neuen Begriffe. «Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Entwicklung eines zeitbezogenen Wortschatzes bemerkenswert: systemrelevant, Social Distancing, Balkonkonzert oder Herdenimmunität: Diese und viele andere Begriffe prägen unsere Kommunikation in den letzten Wochen. Neben den schon erwähnten Möglichkeiten der Wissensvermittlung sind in den letzten Wochen spezielle Corona-Glossare vermehrt zu finden, die sich mit dem Wortschatz rund um Corona befassen und sprach- und sachbezogene Erläuterungen anbieten.» Das schreibt Christine Möhrs, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Lexik am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim.3

Zwischen den Zeilen lesen

Dass die Zeit, in der Menschen leben, ihre Sprache prägt, ist keine neue Erkenntnis. Dass es so ist, stellte ich früher fest, wenn ich mit meinen Tanten und Onkeln sprach, die alle in den ersten zwanzig Jahren des letzten Jahrhunderts in ländlichen Gegenden der Schweiz zur Welt gekommen waren und meist bis zu ihrem Tod am selben Ort gelebt hatten. Ich liebte ihre alten Ausdrücke und Bezeichnungen für Dinge und Tätigkeiten, die es heute gar nicht mehr gibt. Ich liebte auch die Bedächtigkeit, mit der sie sprachen. Die langen Pausen, die sie einstreuten zwischen den Sätzen, oft stockten sie auch mitten in einem Satz und liessen ihn unfertig in der Luft hängen, schickten ihm aber ein Schulterzucken nach, eine abwehrende Handbewegung oder einen langen Blick. Diese Tanten und Onkel sind alle längst gestorben, und mit ihrem Tod ist auch ihre Sprache und insbesondere ihre umständliche Sprechweise verschwunden, geprägt von Andeutungen, Vermutungen, beredten Pausen und Unausgesprochenem. 

Komm auf den Punkt, lautet heute die Devise. Das Klipp-und-Klare ist gefragt. Das Kurze. Das Knappe. Sie haben zwanzig Sekunden für ein Statement. 300 Zeichen müssen reichen für die Darstellung eines verzwickten Sachverhaltes – nur, wer sagt denn heute noch verzwickt? Allzu viel Nostalgie nach bedächtigerer Kommunikation allerdings ist nicht angebracht, denn es war oft mühsam, sich im Dschungel der Andeutungen meiner Verwandten überhaupt einen Reim zu machen darauf, was Sache war. Der einzige Vorteil: Man lernte, zwischen den Zeilen und aus Gesichtern zu lesen. Zwar streute damals niemand dauernd «Weisch was i meine» ein, aber man ahnte dennoch, was gemeint war.

Bis heute mag ich es, andere Menschen zu beobachten, wenn sie miteinander reden. Es geht mir dabei nicht um das Was, sondern um das Wie. Glücklich glucksenden joggenden Menschen mitten im Wald zu begegnen, die abwechselnd «echt», «crazy», «voll» oder «fuck» ins Handy rufen, um ihr lautes Schnaufen zu übertönen, bringt mich zum Lachen. Junge Menschen, die sich in der Bahn unterhalten und im selben Satz dreimal locker die Sprache wechseln, rufen in mir Bewunderung hervor. Clevere Zweijährige, die ihre Eltern mit dem Minimalstwortschatz «nein» und «das ha» absolut im Griff haben, bringen mich zum Nachdenken. Über die Eltern. Und über die Sprachen, die uns im Alltag umgeben. 

Vom Alleinsein

Ich gehe davon aus, dass die jüngste, pandemiegeprägte Zeit nicht nur unsere Sprache geprägt, sondern auch Rückzug und Abschottung in die eigenen engsten Kreise gezwungenermassen gefördert hat. Notgedrungen blieben Austausch und Begegnungen aussen vor oder sie haben, wenn überhaupt, im virtuellen Raum stattgefunden. Und die Selbstgespräche, vermute ich, haben wohl zugenommen. Ist es schlimm, mit sich selbst zu sprechen? Zeugt das von einer gewissen Schrulligkeit, riechen Selbstgespräche gar nach Einsamkeit? Mit sich selbst im Gespräch zu sein, im kritischen, zweifelnden und immer wieder auch freundlichen Austausch, tut ja nicht nur in pandemischen Zeiten Not. Und damit meine ich nicht dieses Achtsamkeitsgefasel, diese ewige Aufforderung, gut zu sich selbst zu sein oder ihr Gegenteil, die Selbstoptimierung, sondern ganz schlicht die Fähigkeit, mit der eigenen Gesellschaft zurechtzukommen. Und ich hoffe ja sehr, dass uns die pandemiebedingte Abschottung sogar gelehrt hat, die eigene Gesellschaft nicht nur auszuhalten, sondern auch zu schätzen. Etwas mit sich selbst anzufangen zu wissen. Oder sich mal so gründlich zu langweilen und das auszuhalten. By the way, lesen hilft immer. Bücher sprechen zu uns. Oder in uns. Lesende sind im Gespräch mit sich selbst. Und in Lesegruppen auch im Gespräch mit anderen. Während der Pandemie zum Beispiel hat sich meine Lesegruppe über Zoom ausgetauscht und noch nie waren die Diskussionen so substanziell. Die Teilnehmenden haben sich minutiös und nicht abgelenkt durch allerlei soziale Aktivitäten auf die Treffen vorbereitet, die meisten ü60 übrigens, und sie haben es problemlos geschafft, sich zurechtzufinden bei den Online-Meetings. Gegen Schluss haben wir uns gegenseitig noch Bücher empfohlen, dann winkten wir uns zu, und als der Bildschirm dann wieder schwarz war, sagte mir später eine Teilnehmerin, habe sie sich einen Moment lang noch alleiner als sonst gefühlt. 

Über das Alleinsein hat der deutsche Autor Daniel Schreiber ein wunderbares Buch geschrieben: «Allein», erschienen 2021 bei Hanser. Denn wie bereits gesagt, in sozialer Isolation kann Literatur ganz gewiss eine Stütze sein und insbesondere dieses Buch ist auf manche Weise erhellend. Es geht in Schreibers erzählerischem Essay um Fragen, weshalb das Zweisamkeitsmodell in unserer Gesellschaft so hoch im Kurs steht, welchen Stellenwert Freundschaften haben und was der Unterschied ist zwischen Allein-sein und Einsamkeit. «Auch wenn Einsamkeitsgefühle zum Leben allein gehören, muss dieses Leben nicht zwangsläufig einsam sein. Ich habe keine Angst davor, allein zu sein. Obwohl ich manchmal darunter leide, verstehe ich es nicht grundsätzlich als einen Mangel, sondern als etwas, das ich geniessen kann.»

Das Buch erzählt nicht bloss vom Alleinsein, sondern es dreht sich auch um Glück und Alltag, erzählt über Menschen und ihre Fähigkeiten, Neues zu lernen. Erzählt vom Stricken zum Beispiel. Vom Wandern. Vom Gärtnern. Das alles kommt, neben vielen Verweisen auf weiterführende Sach-, Fach- und «Schöne Literatur» zur Sprache, und zwar in einer nicht völlig aufgeblasenen Narration – will heissen, schlicht gut erzählt. Begonnen mit der Recherche zum Thema und dem Schreiben des Buches hat der Autor vor der Pandemie – und dann ist sie ihm in die Quere gekommen und hat mitgeschrieben! Wie in unser aller Leben.

  1. www.boersenblatt.net/news/wir-alle-koennen-schon-einmal-ueben-uns-nicht-ueber-den-genderstern-aufzuregen-174687
  2. www.mhaensel.de/sprachfoerderung/fachsprache/fachsprache.html
  3. Christine Möhrs (2020): Grübelst du noch oder weisst du es schon? Glossare erklären Corona-Schlüsselbegriffe. In: Annette Klosa-Kückelhaus (Hrsg) (2021): Sprache in der Coronakrise. Mannheim: iDS-Verlag (Print und online)
  4. Daniel Schreiber (2021): Allein. Berlin: Hanser

Theres Roth-Hunkeler ist Autorin und Leserin, www.roth-hunkeler.ch. Kontakt: roth.hunkeler@bluewin.ch