12.11.2025
N°2 2025

Zum Erfahrungsvollzug des Lernens und dessen Implikationen für die Erwachsenen- und Weiterbildung: Eine phänomenologische Perspektive

Dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist bzw. lebenslang gelernt werden sollte, erfährt breite Zustimmung. Dieser Beitrag zeigt auf, wie sich der Vollzug des Lernens aus einer phänomenologischen Perspektive gestaltet. Er bietet eine differenzierte Beschreibung der Charakteristika und des Vollzugs menschlichen Lernens, seiner Bedingungen, Abhängigkeiten und Reichweiten, wobei konkrete Implikationen für das Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung aufgezeigt werden.

1 Einleitung

Die subjektwissenschaftliche Perspektive gehört zu den wichtigsten Ansätzen der Erziehungswissenschaft. Die Begründung des Lernens aus subjektwissenschaftlicher Sicht nimmt ihren Ausgang bei Klaus Holzkamp (1994; 1995; 1996) und wurde im Anschluss daran von Autoren wie Peter Faulstich und Joachim Ludwig (2004) insbesondere für die Bereiche der Erwachsenen- und Weiterbildung weiter ausdifferenziert. Diese subjektwissenschaftliche Sicht auf das Lernen wird im vorliegenden Beitrag durch eine spezifisch phänomenologische Sicht – u.a. im Anschluss an Käte Meyer-Drawe – auf lebensentfaltendes Lernen erweitert. Was bedeutet lebensentfaltendes Lernen aus einer phänomenologischen Perspektive? Was sind Anstösse solcher Lernprozesse? Wann und unter welchen Bedingungen gelingt oder misslingt Lernen, v.a. bei Erwachsenen, bei denen verfestigte Meinungen und starre Gewohnheiten möglicherweise bereits ihre Wirkkraft entfaltet haben? Insbesondere die Rolle der anderen und der Dinge sowie die spezifische Modifikation des Gefüges von Einstellung und Erwartung, so die These der nachstehenden Überlegungen, erweisen sich als bedeutsame Anlässe und Charakteristika menschlichen Lernens, die in der Perspektive Holzkamps bisher zu kurz kommen. Gerade um schöpferisch, gestalterisch und befreiend handeln zu können und lebensentfaltend tätig zu sein, ist die Bezogenheit auf anderes und andere unumgänglich.

Im Beitrag werden die Charakteristika und der Vollzug menschlichen Lernens aus einer phänomenologischen Perspektive dargestellt (2). Dabei wird insbesondere auf das Menschenbild (2.1), den Ausgang des Lernens und die Brüchigkeit des Erfahrungsvollzugs (2.2) sowie die Rolle der Scham und das Unlernbare bei jedem Lernen (2.3) eingegangen. Im Fazit werden pädagogische Ansatzpunkte aufgezeigt, welche sich aus der Perspektive auf Lernen als Erfahrung für das (lebensentfaltende) Lernen von Erwachsenen sowie das Feld der Fort- und Weiterbildung ergeben, wobei die Gewohnheit bzw. Gewöhnung eine Schlüsselrolle spielt (3).

2 Charakteristika und Vollzug menschlichen Lernens

Während sich der subjektwissenschaftliche Ansatz Holzkamps der Kritischen Psychologie als besondere Spielart einer Subjektwissenschaft zuordnen lässt, ist die Phänomenologische Erziehungswissenschaft eine pädagogische Denkrichtung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in systematischer Form aus der Philosophie, genauer der Phänomenologie, entstanden ist. Erziehungswissenschaft in dem hier gemeinten Sinn lotet durch genaues Wahrnehmen, Beschreiben und Analysieren unterschiedliche menschliche Erfahrungen, die Vielfalt ihrer Erfahrungsmöglichkeiten sowie die Erscheinungsweisen von Welt aus, ohne auf vorgefasste Ideen oder Theorien zurückzugreifen. Mit dem Ziel, eine positivistische Verengung auf sinnliche empirische Daten zu überwinden, nimmt dieser pädagogische Denkstil dabei einen Perspektivwechsel vor: Anstelle der analysierenden Betrachtung des Endergebnisses von pädagogischen Prozessen wie dem Lernen rücken die Prozesse des Lernens selbst, im Moment ihres Entstehens in statu nascendi und im Verlauf ihres Vollzugs, in den Fokus der Betrachtungen (vgl. Agostini, im Druck). Im Folgenden wird der Beitrag einer Phänomenologischen Erziehungswissenschaft zum menschlichen Lernen herausgearbeitet. Dabei werden insbesondere die kritischen Anmerkungen zu Lerntheorien im Allgemeinen und zur subjektwissenschaftlichen Position im Besonderen aufgegriffen, die sowohl Meyer-Drawe (2012a) als auch Künkler (2014) vorbringen, nämlich «dass die subjekttheoretischen Annahmen jeder Lerntheorie gegenstandskonstitutiv sind, d. h. entscheidend mitbestimmen, was jeweilig überhaupt unter Lernen verstanden werden kann» (Künkler, 2014, S. 204). Im Aufgreifen ausgewählter subjekttheoretischer Vorannahmen und Charakteristika einer subjektwissenschaftlichen und phänomenologischen Lerntheorie erweisen sich diese im Laufe ihrer genauen Analyse und Ausdifferenzierung als Scheidepunkte zwischen den beiden Ansätzen.

2.1 Menschenbild: Sozialität, Leiblichkeit und Situiertheit

Die Hauptkritik von Meyer-Drawe (2012a, S. 14) und Künkler (2014, S. 214f.) an der subjektwissenschaftlichen Position gipfelt darin, dass die Lerntheorie nach Holzkamp immer noch die klassische Figur des autonomen, souveränen, rationalen und vernünftigen Subjekts befürwortete. Künkler (2014, S. 214) macht dies beispielsweise an der Verwendung subjektwissenschaftlicher Begrifflichkeiten wie ‹Weltzugriff›, ‹Weltaneignung› und ‹Weltverfügung› fest bzw. an der Unterscheidung Holzkamps «in entweder bewusstes, intentionales und begründetes Handeln oder gegenteilig unbewusstes, nicht intentionales und bloss gewohntes Handeln bzw. Verhalten» (ebd., S. 216), das damit als selbst- bzw. fremdbestimmtes Handeln dualisiert werden würde (vgl. ebd.). Diese Verfügbarmachung eines genuin Unverfügbaren wie des Lernens lässt sich gut in allgemeinere Diskurse rund um Lernen und pädagogisches Handeln einreihen, welche, in der Sicht der hier eingenommenen phänomenologischen Perspektive, als dominierende Vision und grosse Hoffnung der Pädagog*innen einen «[n]eue[n] Menschen aus Menschenhand» (Meyer-Drawe, 2012b, S. 444) befürworten. Solche phänomenologischen Betrachtungen gehen im Gegensatz dazu von einer sozialen Bezogenheit und intersubjektiven Situiertheit der Lernenden und pädagogisch Handelnden aus wie z.B. der Sozialität der Lernenden, v.a. im Unterschied zu deren Individualität, der intersubjektiven Verwicklung mit anderen, z.B. jener zwischen Lernenden und Lehrenden, und dem Aufforderungscharakter von Dingen und Welt, in kritischer Abgrenzung zu bloss subjektiven Konstruktionen von Einzelnen. Damit tritt der Fokus auf die*den Einzelne*n bzw. das Individuum zugunsten einer Betonung intersubjektiver, dialogischer Zusammenhänge zurück. Einzelne Personen oder individuelle Vorstellungen, Gründe oder Handlungen der Subjekte sind nicht mehr die Garanten eines gelingenden Lernprozesses, sondern Sinnbildungsprozesse ereignen sich immer im Ausgang von und im Austausch zwischen mehreren, d.h. intersubjektiv. Gerade diese Sichtweise auf Selbst-, Fremd- und Weltbezüge lässt auch den Gegenstand des Lernens als einen anderen hervortreten, welcher der Ambiguität menschlicher Handlungs- und Erfahrungsprozesse vor eindeutigen Interessen oder Begründungen Rechnung zu tragen versucht. In einem phänomenologischen Verständnis stösst die Vernunft an die Widerständigkeit des Leibhaften: Der Mensch ist nicht ein Denker, der auch einen Körper hat, sondern er ist ein leibliches Wesen, das denkt. Leibliches Verhalten wie das Lernen entspringt dabei der eigenen Lebenswelt, vollzieht sich im intersubjektiven Austausch mit anderen und verweist dabei immer auch auf die eigene leibliche Positionierung und das Eingebundensein in soziale Praxis. Dabei geht es nicht darum, die eigene Leiblichkeit zu überwinden, so wie es die Formulierung «meine körperliche Schwerfälligkeit, die ‹Unwilligkeit› meiner Gliedmassen (‹Muskeln› und ‹Sehnen›), der Lernintention zu gehorchen» (Holzkamp, 1995, S. 287) nahelegt, sondern das leibliche Eingebundensein begrenzt nicht nur, es ermöglicht allererst die Entstehung von Sinn, Intentionalität, aber auch Spontaneität und damit Lernen.

2.2  Der Ausgang des Lernens und die Brüchigkeit des Erfahrungsvollzugs

In einer phänomenologischen Perspektive beginnt das Lernen mit einem für den Menschen wirkmächtigen Ereignis, das ihn trifft, seine Erwartungen durchkreuzt und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gerade noch hatten wir eine bestimmte Absicht. Diese war, wenn auch nicht bewusst, mit bestimmten Erwartungen verknüpft. Durch Unvorhergesehenes werden diese Erwartungen schlagartig durchkreuzt. Das Widerfahrnis bricht in das Vertraute ein und reisst uns aus dem Gewohnten und Alltäglichen. Das griechische Wort Pathos fasst ebendiese Erfahrung: «etwas, das uns zustösst, anrührt, trifft, nicht ohne unser Zutun, aber über dieses hinaus» (Waldenfels, 2006, S. 3). Als Personen sind wir bei diesem Ereignis zwar massgeblich beteiligt, initiieren es aber nicht. Als Getroffene können wir uns den damit einhergehenden Erfahrungen nicht entziehen, die daraus entstehenden Gefühle nicht sofort regulieren. Als Störung treten sie in das Vertraute ein und lassen uns als andere zurück (vgl. Meyer-Drawe, 2013, S. 73). Als widerfahrender Anspruch gewinnt das Widerfahrnis jedoch erst in unserer Antwort darauf an Bedeutung, sodass Anspruch bzw. Widerfahrnis (Pathos) und Antwort (Response) unwiderruflich miteinander verbunden sind: Diese Antwort auf einen Anspruch kann sich als eine sprachliche oder nichtsprachliche Äusserung artikulieren bzw. sich gerade darin zeigen, dass jemand am Sprechen scheitert, d.h. als Verstummen. Das Widerfahrnis ist zunächst nicht identifizierbar, sondern wird erst in unserer Antwort in einen spezifischen Bedeutungszusammenhang gestellt und uns damit als ein bestimmter Gegenstand unserer Erfahrung zugänglich. Dafür muss es in unseren persönlichen Möglichkeiten liegen, es als solches zu erfahren. Unbefragte Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten stehen dem produktiven Eingehen auf das Widerfahrnis dabei im Wege (vgl. Agostini, im Druck). Ohne das Durchbrechen von Gewohnheiten und vermeintlich Selbstverständlichem in Form eines Vorwissens tritt das Ereignis in unserer Wahrnehmung nicht als Widerfahrnis auf und provoziert damit keine produktive Antwort. Dabei ist in einer phänomenologischen Sichtweise gerade das Widerfahrnis die Bedingung der Möglichkeit für pädagogische Prozesse wie ein Lernen als Erfahrung (vgl. Meyer-Drawe, 2012b). Das Interesse entspringt in dieser Sichtweise nicht dem Individuum allein, sondern es wird durch das Widerfahrnis «entfacht» und herausgefordert sowie in unserer Antwort darauf als solches bestätigt. Von einem phänomenologischen Standpunkt aus gesehen kommt eine Theorie des Lernens nicht ohne eine Vorstellung von Erfahrung als Widerfahrnis aus. Streng genommen kann nur da die Rede von Erfahren sein, wo etwas Neues, Unvorhergesehenes oder Überraschendes zu Bewusstsein gelangt. Erfahrung weist auf Bruchstellen im Denken und Handeln hin und gestaltet die Diskontinuität des Vollzugs massgeblich mit. Erfahrung wandelt sich dann in Belehrung, und zwar sind es die Dinge oder die anderen, die sich uns Menschen kundtun und uns über sie belehren (ebd., S. 189ff.). Nach Meyer-Drawe (ebd., S. 18) ist deshalb «jedes Lernen Lernen von etwas durch jemand Bestimmten bzw. durch etwas Bestimmtes», d.h. relational gefasst und inhaltlich dimensioniert.

2.3  Die Rolle der Scham und das Unlernbare bei jedem Lernen

Diese Theorie des Lernens als Erfahrung, d.h. eines Umlernens, in dem in einer schmerzhaften Umkehr (Periagoge) eine «Erfahrung über die eigene Erfahrung» (Meyer-Drawe, 2013, S. 74) gemacht wird, formuliert Meyer-Drawe v.a. im (kritischen) Anschluss an Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Günther Buck und Bernhard Waldenfels und unter Bezugnahme auf Platon und Aristoteles aus: Erst aufgrund der neuen Erfahrung kann das Vorwissen als ein nun infrage zu stellendes Wissen zu Bewusstsein kommen. Hier ergibt sich in einer phänomenologischen Perspektive ein Schlüsselmoment, der die produktive Rolle der (prohibitiven) Scham hervortreten lässt: Diese versuche nach Hans Lipps (1941), das Aufkommen eines Neuen für das Bewusstsein allererst zu verhindern: «Scham bannt und unterbindet. […] [W]irkliche Scham ist gerade darin lebendig, dass sie Bestimmtes gar nicht aufkommen lässt.» (Lipps, 1941, S. 32) Das «Versagen der Scham […] lässt dann Scham als Gefühl erst rege werden» (ebd.). Die Lernenden werden im Vollzug der Erfahrung einerseits mit sich selbst als Nichtwissende konfrontiert, was einer schmerzhaften Selbstbegegnung, einem Verlust gleichkommt. Andererseits wird ihnen dadurch die Möglichkeit für Lernen gerade erst eröffnet, da sie sich als jene in den Blick bringen, die sich, die anderen und die Dinge anders sehen und verstehen können. Erst im Durchbrechen der Instanz der Scham und im adäquaten Umgang mit dem dabei entstehenden Schamgefühl kann das eigene Vorwissen infrage gestellt und dieses in der Folge umstrukturiert werden, sodass es zu einem «Wandel der ‹Einstellung›, d.h. des ganzen Horizonts der Erfahrung» (Buck, 1989, S. 47) kommt. Mit diesem Lernvollzug ist nach Meyer-Drawe (2012b) keineswegs ein kumulatives Fortschreiten verbunden, d.h. beim Lernen kann weder nur von Tilgung noch nur von Gewinn gesprochen werden, sondern der Erfahrungshorizont wird umstrukturiert bzw. differenziert sich aus. Im Lernen als Erfahrung machen die Lernenden somit eine bestimmte Erfahrung in Bezug auf sich selbst, die Fremden bzw. anderen sowie die Dinge in der Welt. Die Voraussetzung dafür liegt in einer grundsätzlichen Empfänglichkeit für anderes oder die anderen bzw. einer genuinen Erfahrungsfähigkeit begründet (vgl. Meyer-Drawe, 2012b). Damit kann Lernen in einer phänomenologischen Perspektive als ein Ereignis gefasst werden, das uns unerwartet trifft und zwischen den Modalitäten von Wahrnehmen und Erkennen angesiedelt ist, sowie von Gefühlen der Scham begleitet sein kann. Im Vollzug des Lernens ereignet sich etwas Unbegriffenes, welches nicht sofort und vielleicht auch niemals verstanden wird und dennoch die Möglichkeit für pädagogische Prozesse allererst eröffnet. Dabei ist das Pathos bzw. Widerfahrnis als «unlernbarer Grund des Lernens» (Buck, 1989, S. 93) der eigenen Entschlusskraft und Verfügungsmacht entzogen. Lernen bedeutet damit, sich einem pathischen Feld zu überlassen, das möglicherweise unsere ganze Erfahrungs- und Wahrnehmungsweise verändert. Diese Verwandlungen ergeben sich dabei nicht aus einem zielgerichteten Tun, sondern nehmen erst im (abweichenden) Tun selbst Gestalt an.

3 Fazit: Pädagogische Ansatzpunkte für das Lernen von Erwachsenen in der Fort- und Weiterbildung

Welche pädagogischen Ansatzpunkte lassen sich aus der phänomenologischen Perspektive auf Lernen als Erfahrung – mit all seinen Bedingtheiten und Unabwägbarkeiten – für das (lebensentfaltende) Lernen von Erwachsenen sowie das Feld der Fort- und Weiterbildung ableiten?

Lernen gründet auf gewohnheitsmässigen Praktiken des Leibes, welche dabei helfen, die Welt zu ordnen und sich in dieser einzurichten bzw. zurechtzufinden, sowie Selbstverständlichkeiten und Vorwissen entstehen lassen. Bei Erwachsenen können sich diese Vorerfahrungen in Form von starren Haltungen, hartnäckigen Meinungen und im sogenannten gesunden Menschenverstand manifestieren sowie das Weiterlernen erschweren und insbesondere das Umlernen erheblich einschränken. Erst wenn sich etwas anders als erwartet erweist und sich somit ein Bruch im eigenen Erfahrungsvollzug ergibt, gelingt es Erwachsenen, sich vom vertrauten Erfahrungsgrund zu lösen und neues Wissen über sich, die anderen, die ihnen diese Erfahrung ermöglicht haben, sowie die Welt zu erlangen. Etwas Neues zu lernen, setzt deshalb voraus, dass Erwachsene sich immer wieder von sich selbst, den anderen und den Dingen in der Welt überraschen lassen.

Eine wichtige Voraussetzung für das Lernen Erwachsener ist, dass sie Offenheit für das Neue mitbringen, um die Beharrungskräfte von Vorerfahrungen zu überwinden und dem individuellen Anspruch der eintretenden Situation gerecht zu werden. Da der Erwerb des Neuen nur als Infragestellung des bisher Gegebenen zu haben ist, bedeutet diese Offenheit eine gewisse Anstrengung und ist möglicherweise schambesetzt. Diese Offenheit für Neues und anderes kann bei Erwachsenen in Form einer Haltung herausgebildet werden. Eine Schlüsselrolle spielen auch hier wieder Gewohnheiten: So besteht im Lernen als Gewöhnung zwar das Risiko, für pathische Erfahrungen der Irritation nicht mehr offen zu sein. Zugleich können gewohnheitsmässige Praktiken, stetig wiederholt und damit produktiv eingeübt, auch auf die Ausübung zukünftiger Handlungen Einfluss nehmen, indem sie Erwachsene bevorzugt etwas als etwas Bestimmtes wahrnehmen bzw. diese präferiert in einer bestimmten Art und Weise handeln lassen.

Diese besondere Haltung in Bezug auf sich selbst, andere und die Welt ist durch andere bedingt und auf andere(s) bezogen, die z.B. das Begehren zu lernen anstacheln können. Interesse entsteht nicht im Subjekt allein oder im sogenannten luftleeren Raum. Da Lernprozesse nicht ausschliesslich selbst initiiert werden können, stellen auch Gründe bzw. Begründungen keine ausreichende Voraussetzung für das eigene Lernen dar. Damit ergeben sich für das Lernen von Erwachsenen Spielräume sozialer, räumlicher und zeitlicher Art. Für Lehren bzw. pädagogisches Handeln heisst dies beispielsweise, dass Lernen auch von anderen zwar nicht absichtsvoll initiiert werden kann, aber z.B. soziale, räumliche oder zeitliche Anlässe für Lernen im Bildungsprozess geschaffen bzw. diese geschickt aufgegriffen werden können. Lernen ist damit nicht unmittelbar eine Folge von Lehren bzw. von Fort- und Weiterbildung, setzt aber die Intervention von anderen Personen voraus, die um die Nöte der Lernenden wissen und sie zum Überschreiten ihrer (selbstgesetzten) Grenzen herausfordern. Lernen wird aber nicht nur durch einen sozialen Bezugspunkt bzw. ein Gegenüber ermöglicht, sondern auch durch Dinge, die zu alternativen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweisen anstiften können.

Neue Erfahrungen treffen immer auf eine Form von «Weltwissen». Lernen meint deshalb stets auch ein Ausdifferenzieren von bereits erlangtem Wissen, sodass stereotype Handlungs- und Denkweisen durchbrochen werden können. Die Freiheit des Handelns und damit auch eines Lebens in der Welt liegt darin, dass Erwachsene nicht vorab auf eine bestimmte Antwort festgelegt sind, sondern auf gleiche Ansprüche unterschiedlich antworten können. Dieses Erlangen einer Varietät an Antwortmöglichkeiten stellt das Ziel eines Lernens von Erwachsenen dar. Sensibel auf die Ansprüche, welche die anderen und die Welt an sie stellen, zu antworten und auf diese differenziert einzugehen sowie «gleichberechtigte» alternative Denk- und Wahrnehmungsweisen zum Zug kommen zu lassen, ermöglicht in dieser Sichtweise «lebensentfaltendes» Lernen.1

  1. Für eine kritische Lektüre herzlich gedankt sei Agnes Bube und Käte Meyer-Drawe.

Literatur

Agostini, E. (im Druck): Phänomenologische Erziehungswissenschaft. In: M. F. Buck & J. Bossek (Hrsg.), Strömungen und Denkstile in der Pädagogik – die Spannbreite pädagogischen Denkens und Handelns sichtbar machen. Klinkhardt.

Buck, G. (1989): Lernen und Erfahrung – Epagogik: zum Begriff der didaktischen Induktion (3., erw. Aufl.). Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Faulstich, P., & Ludwig, J. (Hrsg.). (2004): Expansives Lernen. Schneider.

Holzkamp, K. (1994): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Einführung in die Hauptanliegen des Buches. LLF-Berichte, 8, S. 34–62.

Holzkamp, K. (1995): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Campus.

Holzkamp, K. (1996): Texte aus dem Nachlass. Argument-Verlag.

Künkler, T. (2014): Lernen vom Subjektstandpunkt? Eine kritische Auseinandersetzung mit der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie Holzkamps. In: P. Faulstich (Hrsg.), Lerndebatten. Phänomenologische, pragmatistische und kritische Lernthorien in der Diskussion (S. 203–224). transcript.

Lipps, H. (1941): Das Schamgefühl. In: Strassburger Wissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.), Die menschliche Natur. Werke, Bd. III (S. 29–43). Vittorio Klostermann.

Meyer-Drawe, K. (2012a): Lernen aus Passion. In: H. von Felden, C. Hof & S. Schmidt-Lauf (Hrsg.), Erwachsenenbildung und Lernen. Dokumentation der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 22.–24. September 2011 an der Universität Hamburg (S. 9–20). Schneider.

Meyer-Drawe, K. (2012b): Diskurse des Lernens (2., durchges. und korr. Aufl.). Wilhelm Fink.

Meyer-Drawe, K. (2013). Lernen und Leiden. Eine bildungsphilosophische Reflexion. In: D. Nittel & A. Seltrecht (Hrsg.), Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinärer Perspektive (S. 67–76). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Waldenfels, B. (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp.