22.11.2022
N°2 2022

Die unerhörten Geschichten. Eine diskursanalytische Untersuchung zu Sicht- und Unsichtbarkeiten von Frauen in der Inszenierung des 20-Jahre-Jubiläums der Klubschule Migros

Jubiläen werden von Institutionen genutzt, um sich ihrer eigenen Geschichte zu bemächtigen und diese medial zu inszenieren. Zur Klubschule Migros, als grosse Institution der Erwachsenenbildung in der Schweiz, finden sich erstmals 1964 in diversen Schweizer Tageszeitungen Hinweise auf eine solche öffentlich arrangierte Jubiläumstätigkeit. In der Betrachtung dieser Inszenierungsweise fällt auf, dass ausschliesslich mit männlichen Akteuren operiert wird, während Frauen nicht erwähnt werden. Diese offensichtliche Engführung in der Erzählung von Geschichte soll im Folgenden sichtbar gemacht und den in den Jubiläumsberichten nicht hörbaren Akteurinnen eine Stimme gegeben werden.

Heldengeschichten der Entstehung der Klubschule Migros

In Zeitungsberichten zu den Jubiläumsfeierlichkeiten der Klubschule Migros vom Samstag, 9. Mai 1964, im Kongresshaus Zürich werden vorrangig prominente männliche Akteure in Szene gesetzt. Es sind der Gründervater der Migros Gottlieb Duttweiler und der langjährige Klubschuldirektor Peter Link, denen eine Hauptrolle zuerkannt wird. Rudolf Suter, der Nationalrat und Präsident der Verwaltungsdelegation des Migros-Genossenschaftsbundes, und Jean-Baptiste de Weck, Generalsekretär der Schweizerischen Nationalen Unesco-Kommission, verleihen der inszenierten Jubiläumsfeier einen feierlichen Anstrich und werden dazu ermächtigt, das Wirken der Migros zu ehren. Es ist von Sprachlehrern1 die Rede, die Sprachkurse erteilen. Es sind zwei Männerchöre – mit Verstärkung des Klubschulchors –, unter der Leitung des Musikdirektors Wipf, welche an der Jubiläumsfeier für einen «würdigen musikalischen Rahmen» sorgen (20-Jahre-Jubiläum der Klubschule Migros 1964). 

Ein Jubiläum bietet Institutionen einen guten Anlass, die eigene Geschichte (neu) zu erzählen, sie auf- und festzuschreiben und – im Falle der Migros – sich damit ins Feld der Erwachsenenbildung einzuschreiben. In Berichten, Festschriften und Jubiläumsreden lassen sich ebensolche Erzählungen von Geschichte in verdichteter Weise finden. Wie die Erzählung nun Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ordnet, hierarchisiert und deutet, ist keineswegs eindeutig (Münch 2005; Müller 2004): «Bei genauer Betrachtung ist es gerade der Sinn von Jubiläen, nicht nur Geschichte zu erzählen und dadurch Erinnerung wachzuhalten, sondern auch Geschichte zu sortieren und zu hierarchisieren, manches zu kassieren, wie ein Archivar sagen würde, also: das Vergessen zu organisieren. Entscheidend ist, wer und was sich in der Konkurrenz um Erinnerungsgeschichten durchsetzt, wer welche Geschichte erzählt, wer welches Erbe reklamiert und welche Identität, welche Zugehörigkeit damit etabliert, welche ausgeschlossen werden soll.» (Speitkamp 2017, S. 6) 

Der analytische Blick in das Material des 20-Jahre-Jubiläums der Migros von 1964 macht deutlich, dass sich ebensolche (An-)Ordnungen, Reihungen, Hierarchisierungen, Deutungen und Sortierungen in diesen Erzählungen von Geschichte finden lassen. Rekonstruieren nämlich Institutionen ihren eigenen Werdegang, legitimieren sie ihr Handeln im zeithistorischen Kontext. Es ist nun dieser machtvolle Akt der Begründung, verstanden als ein Herstellen von Sinn, welcher über das Erzählen von Geschichte geleistet wird. Über eine stringente «Wirklichkeitserzählung» (Klein und Martínez 2009) in der zeitlichen Dimension der Vergangenheit, entworfen aus einer Gegenwart mit Blick auf eine Zukunft, wird Sinn produziert. Es wird eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende entworfen, die das eigene vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handeln im Feld der Erwachsenenbildung begründet. 

Somit benötigt ein Jubiläum insbesondere einen zeitlich markierten Entstehungszeitpunkt, auf welchen es in seinem Erzählen referieren kann. Im Material des 20-Jahre-Jubiläums der Klubschule Migros wird dieser Ausgangspunkt mit einem Inserat markiert, in welchem Sprachkurse für fünf Franken pro Monat ausgeschrieben wurden, die für die «Nachkriegszeit von besonderer Aktualität» seien (Sprachkurse für unsere Genossenschafter! 1944). In einer Vielzahl von Spielformen findet sich die Erzählung wieder, dass es Gottlieb Duttweiler gewesen sei, der aufgrund einer Anfrage von arbeitslosen Sprachlehrern dieses Inserat im damaligen Publikationsorgan der Migros, «Wir Brückenbauer», habe schalten lassen. 

Jubiläumsschriften als Produktionsstätten von Sinn

Aus einer poststrukturalistischen Perspektive heraus kann dieses Erzählen von Geschichte aus Anlass von Jubiläen nicht als ein objektives oder gar neutrales Aufschreiben, wie es damals gewesen war, verstanden werden. Vielmehr ist dieses Erzählen von (Jubiläums-)Geschichte als ein hegemonialer Produktionsakt von Wahrheiten und Wirklichkeiten im Feld der Erwachsenenbildung zu begreifen (Sarasin 2007; Landwehr 2010). Das Schreiben von Geschichte wird als eine soziale Praxis des Sprechens gedeutet, sodass es spannend zu untersuchen scheint, wer Geschichte schreibt und wer sich darin einschreibt bzw. wer darin eingeschrieben wird. Das Schreiben als performativer Akt (Butler 1997) von dem, was die Erwachsenenbildung war, ist und sein kann, stellt zugleich ein kontingentes Unterfangen dar, denn die hervorgebrachte Geschichte hätte immer auch anders erzählt werden können: Eine sinnstiftende Erzählung von Geschichte zu leisten, bringt mit sich, dass immer auch eine Abgrenzung, eine Ausgrenzung gegenüber all jenen Geschichten vorgenommen wird, die für die eigene Erzählung nicht sinnvoll erscheinen. 

Antje Langer und Daniel Wrana arbeiten für Zeitschriftenartikel heraus, dass diese als Ort eines Diskurses verstanden werden können, als «Territorium, auf dem der Diskurs geführt wird, aber sie sind auch ein Mittel in diesem Kampf und schliesslich sind sie ein umkämpftes Gut (wer über sie verfügt oder Zugang erhält, hat die Möglichkeit zu sprechen).» (Langer und Wrana 2005, S. 2) Das gilt für Jubiläumsberichte und -schriften ebenfalls. Die der Untersuchung zugrunde liegenden Zeitungsberichte von verschiedenen Schweizer Tageszeitungen (u.a. der Tagesanzeiger und die Neue Zürcher Zeitung) und von Publikationsorganen der Migros (Wir Brückenbauer und Die Tat) zum 20-Jahre-Jubiläum der Klubschule werden entsprechend als performative Akte und als Produkte diskursiver Praktiken betrachtet. Daher muss nicht nur die Frage, wer darin zu Wort kommt, geklärt werden, sondern es muss auch untersucht werden, wer kein Gehör findet, wessen Geschichten nicht erinnert werden, wer also in der Folge womöglich in Vergessenheit gerät (Assmann 2017; Assmann 2018; Halbwachs und Maus 1991). 

Auf der Suche nach unerhörten Stimmen

Im Feld der Erwachsenenbildungswissenschaft sind es unter anderem Stephanie Freide und Maria Stimm, welche sich aktuell mit Fragen nach der Sicht- und Unsichtbarkeiten von Frauen im Schreiben der Geschichte der Erwachsenenbildung auseinandersetzen. Sie sehen eine Notwendigkeit darin, den Verhältnissen nachzugehen, «die bedingen, was sich wie von wem als berichtens- und bewahrenswert und schliesslich geschichtsträchtig für die Erwachsenenbildung erwiesen hat» (Freide und Stimm 2022). So geht denn auch dieser Artikel der Frage nach, inwiefern Frauen in den Jubiläumserzählungen der Entstehungsgeschichte der Klubschule Migros (nicht) zu Wort kommen. Die Beschäftigung mit dem archivierten Material zum 20-Jahre-Jubiläum der Klubschule Migros von 1964 zeigt, dass keine Akteurinnen erwähnt werden, geschweige denn zu Wort kommen. Die Rekonstruktion des Wirkens von Adele Duttweiler-Bertschi, Elsa Gasser-Pfau und Anna Suter-Duttweiler legt jedoch nahe, dass diese drei Frauen mit ihrem Engagement für Bildungsfragen Erwachsener im Rahmen des genossenschaftlichen Gedankenguts der Migros bereits vor 1944 und im weiteren Verlauf der Entwicklung der Klubschule Migros durchaus Gehör gefunden haben mussten.2 So schwingt bei der nachfolgenden Spurensuche die These mit, dass diesen Frauenstimmen vielleicht kein Gehör geschenkt wurde, weil ihre Leistungen unerhört und somit in der damaligen Zeit nicht erzählbar waren oder sie damit die Inszenierung der männlichen Heldenfiguren in den Schatten gestellt haben könnten. 

In der Publikation «information Nr. 1» der Klubschule Migros vom 16.10.1967 sind zwei Nachrufe abgedruckt, die das Werk zweier bedeutender Frauen würdigen, «welche die Klubschulidee von allem Anfang mit Verstand und grosser Herzenswärme tatkräftig unterstützt» hätten. Es handelt sich zum einen um Anna Suter-Duttweiler (1884–1967), die Schwester von Gottlieb Duttweiler. Als Mitglied der kulturellen Kommission des Migros-Genossenschafts-Bundes, der Kommission 5, habe sie «manch wohlgemeintes Votum für die damals noch junge Klubschule abgegeben» und sei immer für die Anliegen der Klubschule eingetreten. Im Gosteli-Archiv findet man zu Anna Suter-Duttweiler einen weiteren Nachruf. In diesem wird geschildert, dass sie sich stets für das Wohl ihrer Mitmenschen eingesetzt habe. Sie war als Präsidentin des Frauenvereins Küsnacht tätig und während der Jahre des Zweiten Weltkriegs an Sammlungen von Hilfswerken beteiligt. Sie hatte für überlastete Bäuerinnen Flickdienste organisiert und sich der Soldatenfürsorge gewidmet. 1937 initiierte sie einen Säuglingspflegekurs und war später als Mitbegründerin der Hauspflege Küsnacht tätig (Abschied von Anna Suter-Duttweiler 1967). 

Der zweite Nachruf gilt Elsa Gasser-Pfau (1896–1967). Die promovierte Nationalökonomin arbeitete von 1932 bis 1964 bei der Migros, wirkte ebenfalls in der Kommission 5 und später als Vertreterin des Kulturellen in der Verwaltung des Migros-Genossenschaft-Bundes. Ihr wird zugeschreiben, dass sie «stets ganz besonders die Bemühungen und die Ziele der Klubschulen unterstützt und damit zum Erfolg und zum Durchbruch einer anfänglich bescheidenen Idee, der Förderung der Erwachsenenbildung mit genossenschaftlichen Mitteln», (Klubschulen Migros 1967) beigetragen habe. Sie wird in verschiedenen weiteren Nachrufen, die sich im Gosteli-Archiv finden, als begabte, kluge und verantwortungsbewusste Frau beschrieben, als eine hochgeschätzte Mitarbeiterin und enge Beraterin Duttweilers, die für ihre eigenen Standpunkte leidenschaftlich eingetreten sei: «Sie verteidigte mit Vehemenz und Kenntnis der Probleme ihre Überzeugung.» (Hochstrasser 1967) Es wird geschildert, dass sie in vielerlei Auseinandersetzungen das «moralische Gewissen» repräsentiert und mit Weitblick und Sachkenntnis gehandelt habe (Munz 1964). Gottlieb Duttweiler selbst soll sie als «geistige Mitbegründerin der Migros» bezeichnet haben. Knapp zwanzig Jahre nach ihrem Tod, im März 1984, würdigt Pierre Arnold (1921–2007), der von 1984 bis 1991 als Präsident der Verwaltung des Migros-Genossenschafts-Bundes tätig war, Elsa Gassers Wirken. Arnold hatte sich in seiner Zeit als «oberster Migros-Chef» regelmässig in Wir Brückenbauer mit Briefen an die Genossenschafter:innen gewandt. In einem solchen Brief beschreibt er, dass es Duttweilers Frau gewesen sei, die ihn zu diesem Schreiben ermuntert habe. Anlass dazu sei der letzte Brief von Elsa Gasser an Gottlieb Duttweiler gewesen, in dem sie die Zukunft der Migros skizziert und darin – einmal mehr – den Weg, den die Genossenschaft einschlagen würde, vorausgesehen habe. Er gesteht Elsa Gasser in diesem Brief zu, dass sie zum «intellektuellen und vorausdenkenden Flügel der Migros» gezählt und auch als Mitglied des Verwaltungsrates (1957–1967) hohes Ansehen genossen habe: «Ihre Äusserungen wurden aufmerksam angehört, wie überhaupt ihr Einfluss bedeutend war.» (Arnold 1984) Sie sei mit dem Ideengut der Migros vertraut gewesen, was ermöglicht habe, dass sie als «diskrete» Urheberin vieler Errungenschaften gewirkt habe: «Sie war es, die unseren Gründer in die kulturelle Richtung drängte. Dazu gehörte die Veröffentlichung von kostbaren Geschenkbänden, die Förderung der Ex Libris, die Entwicklung der Klubschulen, die Organisation der Klubhaus-Konzerte.» 

Die späte diskursive Erzeugung von Bedeutsamkeit

In den beiden sehr umfangreichen Biografien zu Gottlieb Duttweiler finden sich je zwei Sätze, die Elsa Gasser als eine bedeutende Akteurin in Bezug auf die Gründung der Klubschule Migros würdigen: Zum einen beschreibt Karl Lüönd, dass Duttweiler auf Anregung von Elsa Gasser hin die Klubschule Migros gegründet habe (Lüönd 2000, S. 66). Zum anderen lässt sich bei Curt Riess nachlesen, dass Elsa Gasser die Idee der Klubschule gefördert habe, denn es seien doch die Frauen gewesen, die abends ihre Zeit gerne produktiv angelegt hätten (Riess 2011, S. 276). 

Paul Link, der erste Direktor der Migrosklubschule, berichtet 1964 im Rahmen des Jubiläums der Migros davon, dass die Vorläufer der Klubschulen Kurse für Genossenschafter3 gewesen seien: «Besser Haushalten, Schneidern, Heizen, Waschen. Es ging darum, Hinweise und Anleitung zu geben, um mit den rationierten Lebensmitteln, Textilien, Brennstoffen und Seifen besser auszukommen.» (Klubschule – Hilfe für den Menschen unserer Zeit 1969) Auf wessen Initiative dies zurückging, lässt sich anhand der Archivquellen nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Es wäre durchaus denkbar, dass es Anna Suter-Duttweiler war, die sich in jenen Jahren bereits an ihrem Wohnort in Küsnacht u.a. mit Säuglingspflegekursen für ihre Mitmenschen eingesetzt hatte. 

Auch Adele Duttweiler-Bertschi (1892–1990) könnte als Initiatorin der Kurse für Genossenschafterinnen während den Kriegsjahren mitgewirkt haben. Über sie wird erzählt, dass sie sich stets für die Anliegen der Frauen eingesetzt habe: «Kaufmännisches Denken in Verbindung mit sozialem Handeln, das entspricht ihrer persönlichen Erfahrungswelt von Jugend an. Es kommt den Frauen zugute, die sehen müssen, wie sie bei kleinen Löhnen der Familie das Essen auf den Tisch bringen. Soziale Verantwortung und Verständnis für die Frauen, die viele Pflichten[,] aber keine politischen Rechte besitzen, diesem Ziel zu dienen, erfüllt Adele Duttweiler-Bertschi mit Zuversicht und Freude.» (Häsler 1992, S. 28) Gottlieb Duttweiler ordnete die Bedeutung seiner Frau für das Unternehmen der Migros wie folgt ein: «Sie hat nicht nur einen wesentlichen Anteil am Aufbau der Migros – ohne sie wäre dieses Werk kaum zustande gekommen.» (Duttweiler, 1955, zitiert nach Häsler 1992, S. 6) Häsler seinerseits beschreibt Adele Duttweiler-Bertschi als «Teilhaberin seines bedeutenden Lebenswerks, das ohne sie nicht hätte werden können, was es geworden ist. Beide brauchten und ergänzten einander in erstaunlicher und wohl schicksalhafter Weise. So gehörte Adele Duttweiler-Bertschi auf ihre unspektakuläre, zurückhaltende und doch immer präsente Art zu den bedeutenden Frauengestalten unseres Jahrhunderts.» (Häsler 1992, S. 7) Auch beim Biografen Karl Lüönd lässt sich nachlesen, dass Adele Duttweilers Einfluss auf das Denken und die Entscheide ihres Mannes als ausgesprochen gross bezeichnet werden könne (vgl. Lüönd 2000, S. 17). Dass sie sich für Bildungsangebote von Erwachsenen engagiert hatte, würde zu der Beschreibung ihrer Persönlichkeit und Haltung passen: «Ihre menschliche Ausstrahlung, ihr soziales Verantwortungsbewusstsein, ihre geistige Präsenz und Klarsichtigkeit beeindruckten immer wieder aufs [N]eue.» (Häsler 1990, S. 34)

Während Pierre Arnold Elsa Gasser knapp zwanzig Jahre nach ihrem Tod eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Migros zugesteht, würdigt er im Nachruf auf Adele Duttweiler-Bertschi zwar deren Wirken als «treibende Kraft», hält aber zugleich fest, dass sie weise genug gewesen sei, «um eine klare Distanz zur Unternehmensleitung zu wahren» (Arnold 1990). Eine Woche später erscheint ein Artikel im Brückenbauer anlässlich ihrer Beerdigung, in dem ihr ausdrücklich dafür gedankt wird, sich nie laut zu Wort gemeldet zu haben. Sie sei «eine verlässliche Beraterin gewesen, ohne sich in geschäftliche Einzelheiten einzumischen». (Ribi 1990, S. 3) Anerkennung erhielt sie also dafür, dass sie von der Seitenlinie aus agierte, ohne auf dem Spielfeld in Erscheinung zu treten. Ihre Rolle war die der Unterstützerin im Hintergrund. Dass sie der männlichen Geschäftsführung den Rücken stärkte, ohne sich anzumassen, selbst Macht auszuüben, steht im Zentrum des positiven Urteils. 

Bemerkenswert ist die Einschätzung durch das Magazin der Schweizer Frauenbewegung Mir Fraue noch zu Lebzeiten Adele Duttweilers. Als Leistung im Zusammenhang mit der Klubschule Migros wird Adele Duttweiler in diesem von einer Autorin verfassten Artikel einzig angerechnet, dass sie selbst noch im fortgeschrittenen Alter in der Klubschule Unterricht genommen habe: «Mit 83 Jahren lernte Adele Duttweiler noch in einer Migrosklubschule töpfern. Sie malt und aquarelliert und ist alles andere als ein unnahbares Monument. Sie ist eine Dame. Sie hat Klasse und Würde von der kostbarsten Art. Sie hat sich ihr Leben lang nie nach vorn gedrängt, keinen Posten angestrebt, keine führende Rolle gespielt. Sie hat ihrem Mann ein Lebenswerk ermöglicht.» (Wiedmer-Zingg 1982)

Die Beschreibungen des Wirkens der drei Frauen – Adele Duttweiler, Elsa Gasser und Anna Suter – sind auf schriftliche Aufzeichnungen zurückzuführen, die ihnen einen bestimmten Einfluss auf die Entstehung der Klubschule Migros zuweisen, ihr Wirken einordnen, hochhalten – und marginalisieren. In den Jubiläumsberichten von 1964 blieben die Frauen ganz ohne Stimme, es wurde ihnen keinerlei Bedeutung zugeschrieben. Später, unter anderem in den Nachrufen von 1967, 1984 und 1990, wurde den drei Frauen zugestanden, bedeutsame, wenngleich «diskrete Urheberinnen» der Entwicklung des Unternehmens Migros zu sein. Als solche diskrete Urheberinnen hatten sie keinen direkten Eingang in die selektionierenden, sortierenden, sinn- und identitätsstiftenden Jubiläumsschriften finden können, welche die Geschichte von der Entstehung der Klubschule Migros (ver-)formen (Müller 2004b, S. 3). 

Diskursive Produktion von Geschichtserzählungen und die Zuweisung von Subjektpositionen

Es erweist sich, dass nicht nur Jubiläumsschriften, sondern auch Nachrufe als performatives Medium mit gesellschaftlicher Relevanz verstanden werden können. Dem Genre des Nachrufs ist geschuldet, dass darin das Leben einer verstorbenen Person einerseits diskursiv erzeugt und anderseits als bedeutsam markiert wird. Mit der medialen Inszenierung von Jubiläen und anderen besonderen Ereignissen wie dem Tod von Persönlichkeiten geht eine diskursive Produktion von Geschichtserzählungen einher. Zum anderen zeigt sich am Beispiel solcher Erzählungen von der Entstehung der Klubschule in Bezug auf die Frage nach dem «Zu-Wort-Kommen» von Frauen, dass die diskursive Praxis des Erzählens von Geschichte eine gesellschaftlich höchst wirkmächtige Zuweisung von Subjektpositionen zu leisten vermag. Dass sich über dieses Erzählen von Geschichte ein machtvolles Subjektivierungsregime installiert, zeigt sich am Beispiel von Adele Duttweiler, Elsa Gasser und Anna Suter in eindrücklicher Art und Weise. 

In diesem Kontext wird deutlich, dass die Suche nach unerhörten Stimmen bedeutungsvoll ist: Wie werden diese Geschichten der Erwachsenenbildung (heute) erzählt? Wer erzählt die Geschichte der Erwachsenenbildung (heute)? Wer schreibt sich in diese Geschichte ein? Welche Akteur:innen kommen darin zur Sprache und wie werden diese arrangiert? Woran und an wen wird erinnert? Und wer gerät damit in Vergessenheit? 

Für das Feld der Historiographie der Erwachsenenbildung in der Schweiz können sich Analysen, welche sich der Funktions- und Vollzugsweise der diskursiven Praktiken in Erzählungen von Geschichte zuwenden, als aufschlussreich erweisen. Die diskursive Praxis des Erzählens von der Geschichte der Erwachsenenbildung ist in die vorherrschenden Machtverhältnisse eingebettet. Dadurch können über die Offenlegung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlich-kulturellen Relationierung der Bildungsarbeit mit Erwachsenen Möglichkeitsräume und Effekte, die in dieser Praxis produziert werden, sichtbar gemacht werden. Darin steckt das Potenzial, die «Wahrheiten», die in diesen Erzählungen von Geschichte produziert werden, zu befragen, um darüber denjenigen Geschichten einen Spalt zu öffnen, die bisher kein Gehör fanden.

Der hier vorliegende Aufsatz behandelt einen Teilaspekt des Promotionsvorhabens «Vielschichtige Geschichten – einseitige Erzählweisen»4. Die Dissertation geht der Frage nach, wie in der Schweiz die Geschichte der Erwachsenenbildung erzählt wird und wie sich diese Erzählung von der Geschichte der Erwachsenenbildung in der Schweiz historisch gewandelt hat (vgl. Klingovsky et al. 2020; Zimmerli 2020). 

  1. Von Beginn an waren auch Sprachlehrerinnen in diesen Kursen tätig. In den Artikeln wird aber durchgängig die männliche Schreibweise verwendet. Dies ist eine für die damalige Zeit gängige Praxis.
  2. Für diesen Artikel war der Zugang zum Archiv der Migros als auch zum Gosteli-Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung bedeutsam. Ein herzliches Dankeschön an die Unterstützung geht damit einerseits an Helena Schulz, Fachspezialistin Archiv bei der Migros und anderseits an Monika Bill, die Leiterin der Zentralen Dienste der Gosteli-Stiftung.  
  3. De facto waren es wohl Genossenschafterinnen, aber Link wählt ausschliesslich die grammatikalisch männliche Form.
  4. Das Promotionsvorhaben wird betreut von Prof. Dr. Ulla Klingovsky (Professorin für Erwachsenenbildung und Weiterbildung, Universität Basel), Prof. Dr. Martin Lengwiler (Professor für Neuere Allgemeine Geschichte, Universität Basel) und Prof. Dr. Christiane Zeuner (Professorin für Erwachsenenbildung mit Schwerpunkt Theorie und Geschichte der Erwachsenenbildung der Universität Hamburg).

Verzeichnis der Materialien

20 Jahre Klubschule (1964). In: Neue Zürcher Zeitung, 05.11.1964.

20jähriges Jubiläum der Klubschule Migros (1964). In: Neue Zürcher Nachrichten, 12.05.1964.

Abschied von Anna Suter-Duttweiler (1967). Gosteli-Stiftung Anna Suter-Duttweiler. Archivierung: 1967/BSF/5420.

Arnold, Pierre (1984): Eine Frau von geistigem Format. In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals, 07.03.1984 (10), S. 2. 

Arnold, Pierre (1990): Adieu, liebe Frau Duttweiler. In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals, 30.05.1990 (22), S. 1.

Häsler, Alfred A. (1990): Das grosse Los. In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals, 06.06.1990 (Zürich), S. 31–34. 

Häsler, Alfred A. (1992): Adele Duttweiler-Bertschi. Ein Jahrhundert Leben. Zürich: Edition M.

Hochstrasser, Charles (1967): Dr. Elsa F. Gasser gestorben. In: Die Tat 32, 01.09.1967 (206), S. 7. 

Klubschule - Hilfe für den Menschen unserer Zeit. Gespräch mit Klubschul-Direktor Paul Link (1969). In: Die Tat 29, 14.05.1969, S. 4. 

Klubschule Migros. Bildung für alle. Online verfügbar unter www.klubschule.ch/Ueber-uns/Klubschule-Migros, zuletzt geprüft am 06.08.2022.

Klubschulen Migros (1967): Zwei bedeutende Frauen (Information, 1).

Lüönd, Karl (2000): Gottlieb Duttweiler (1888-1962). Eine Idee mit Zukunft. Meilen: Verein für wirtschaftshistorische Studien (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, 72).

Munz, Hans (1964): Frau Dr. Elsa Gasser im Ruhestand. In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals, 13.03.1964, S. 2. 

Ribi, Rolf (1990): Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen. In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals, 06.06.1990 (Zürich), S. 3. 

Riess, Curt (2011): Gottlieb Dutweiler. Eine Biografie von Curt Riess. Zürich: Europa Verlag AG.

Sprachkurse für unsere Genossenschafter! Für die Nachkriegszeit von besonderer Aktualität (1944). In: Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals 2, 03.03.1944 (81), S. 5. 

Wiedmer-Zingg, Lys (1982): Adele Duttweiler. Ein Exklusivgespräch. In: Schweizer Frauenblatt: Mir Fraue (7), Gosteli-Stiftung Adele Duttweiler Archivierung: 1971/BSF/1705, S. 4–5.

Literaturverzeichnis

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Freide, Stephanie; Stimm, Maria (2022): Zu|m Wort kommen: Frauen in der Erwachsenenbildungswissenschaft. Ein Hörstück. koll-ag-e.org, 29.03.2022. KollIAGIE.

Halbwachs, Maurice; Maus, Heinz (1991): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer.

Klein, Christian; Martínez, Matías (Hg.) (2009): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler.

Klingovsky, Ulla; Zimmerli, Claudia; Filep, Sarah-Mee (2020): Die Erzählung von Geschichte. Entwurf einer narrativen Diskursanalyse zur Geschichte der Erwachsenenbildung in der Schweiz. In: Olaf Dörner, Anke Grotlüschen, Bernd Käpplinger und Gabriele Molzberger (Hg.): Vergangene Zukünfte – Neue Vergangenheiten. Geschichte und Geschichtlichkeit der Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Opladen: Barbara Budrich (Schriftenreihe der Sektion Erwachsenenbildung der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft), S. 58–68.

Landwehr, Achim (2010): Diskursiver Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Langer, Antje; Wrana, Daniel (2005): Diskursverstrickungen und diskursive Kämpfe - Nationalsozialismus und Erwachsenenbildung. Methodologische Fragen zur Analyse diskursiver Praktiken. Workshop: "Praxis Diskursanalyse". Universität Augsburg. 

Langer, Antje; Wrana, Daniel (2010): Diskursforschung und Diskursanalyse. In: Barbara Friebertshäuser, Heike Boller und Sophia Richter (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa-Verlag, S. 335–349.

Müller, Winfried (2004): Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: Müller, Winifried (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Berlin: LIT Verlag , S. 1–75.

Münch, Paul (2005): Einleitung. In: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum. Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen: Klartext-Verlag, S. 7–25.

Sarasin, Philipp (2007): Diskursanalyse. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt.

Speitkamp, Winfried (2017): Identität durch Erbe? Historische Jubiläen und Jahrestage in der Erinnerungskultur. 2. DOI: 10.25643/BAUHAUS-UNIVERSITAET.3646.

Zimmerli, Claudia (2020): Kurze Geschichte einer wirkungsmächtigen Konsensformel. In: Education Permanente. Zeitschrift für Weiterbildung (03), S. 3–11.