22.05.2025
N°1 2025

Struktur- und Entwicklungslogik einer 
selbstorganisierten Lernkultur. Über die datenbasierte Professionalisierung der betrieblichen Weiterbildung. 

Vor dem Hintergrund einer sich rasant wandelnden Arbeitswelt kommt der betrieblichen Weiterbildung eine bedeutsame Rolle zu. Sie ermöglicht Mitarbeitenden einen reflektierten Umgang mit den eigenen Ressourcen und befähigt sie, die technologischen und strategischen Veränderungen zu verstehen und die Entwicklungen der betrieblichen Strukturen aktiv mitzugestalten. Doch wie kann es gelingen, nicht nur kurzfristige Anpassungsleistungen, sondern langfristige Entwicklungsdynamiken in Gang zu setzen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag in Dialogform nach. Im Gespräch zwischen den Autorinnen (Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung) und Benni Lurvink/René Graf (Coop) wird beleuchtet, wie die Entwicklung einer selbstorganisierten Lernkultur und eine datenbasierte Professionalisierung betrieblicher Weiterbildung gelingen kann.

1 Forschungsarbeiten impulsieren Visionen: Selbstorganisiertes Lernen und Lernbegleitung 

Entwicklungsfördernde und dynamische Lernkulturen – so die leitende These dieses Beitrags – können überall dort entstehen, wo Unternehmen die Bedingungen und Strukturen schaffen, um Menschen durch eine Auseinandersetzung mit ihren beruflichen Anforderungen selbstsorgendes Lernen zu ermöglichen. Ein Lernen, bei dem der Aufbau komplexer Wissensstrukturen und die Entwicklung individueller Lernpraktiken im Zentrum steht und das die Individualisierung von Lernwegen fördert (Klingovsky & Kossack, 2007, S. 68).

Um diese These zu untersuchen, hatten zwei Masterstudentinnen der Universität Basel mit Studienschwerpunkt Erwachsenenbildung1 im Jahre 2018 im Rahmen einer Forschungswerkstatt die Gelegenheit, den Weiterbildungskurs «Experte Wein» am Coop Campus zu untersuchen. Im Handelsunternehmen Coop steht dieses Kursangebot als interne Weiterbildung allen Mitarbeitenden zur Verfügung, die in den Verkaufsstellen als Expert*innen für das Weinsortiment zuständig sind. Auf der Grundlage ihrer empirischen Beobachtungen fertigten die Studentinnen eine sogenannte Situationsanalyse an: Sie beobachteten das Setting im Kursraum, nahmen von der Ordnung des Raumes über die bereitgestellten Lernunterlagen bis hin zu den Bewegungen und Platzierungen der Teilnehmenden und der Kursleitung alles unter die Lupe, setzten das Beobachtete zu den intendierten Lernzielen ins Verhältnis und kontrastierten diese mit den im Kursraum beobachteten Effekten. Das Ergebnis einer derartigen Empirie im Kursraum (Klingovsky, 2021) ist die Analyse institutioneller Schlüsselsituationen (Schäffter, 2003). Dabei werden professionelle Spannungsfelder in der betrieblichen Weiterbildung identifiziert und den Weiterbildungsakteuren vor Ort als datenbasiertes Professionalisierungsmaterial wieder zurückgespiegelt.

Mit Blick auf die lernkulturellen Ansprüche des Unternehmens und die beobachteten Situationsdynamiken konnten im Weiterbildungskurs «Experte Wein» drei zentrale Spannungsfelder analysiert werden:

  • Vermittlung von Wissen vs. Verstehen von Sinn
  • Ausrichtung am Durchschnittlernen vs. Orientierung an individuellen Lernwegen
  • Regulierung von Lernaufgaben vs. Strukturierung selbstgesteuerter Lernprozesse

2 Entwicklungsoffene Lernprozesse als Motor der Transformation 

Coachingfirmen und Unternehmensberatungen arbeiten häufig mit dem Versprechen, ganze Organisationen mit bewährten Modellen und Konzepten zu einem leistungsstärkeren Miteinander zu bringen. An der Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung gehen wir allerdings davon aus, dass es in betrieblichen Weiterbildungskontexten weniger nachhaltig ist, an ein Unternehmen bereits entwickelte Konzepte «heranzutragen» und deren «Anwendung» zu moderieren. Derart eingeführte Modelle bleiben dem Betrieb und den Mitarbeitenden häufig «äusserlich» und evozieren lediglich umsetzungsorientierte Fragen wie Wie geht es nun genau? Was heisst hier Lernbegleitung? Was verstehen die Moderator*innen darunter? Wie können wir das erreichen? etc. Derartige Settings führen häufig zu dem ungelösten Problem der bereits oben problematisierten Transferstrecke: In der Anwendung/Umsetzung eines vorgegebenen Schemas oder Konzepts in die Praxis bleibt stets doch einiges «auf der Strecke».

Für die Entwicklungsarbeit am Coop Campus wählten wir einen etwas anderen Ausgangspunkt: Wir zirkulieren und formen Begriffe, legen ihre Grundstruktur aus, kreieren offene Erkundungsfragen und impulsieren hierdurch die Entwicklung betriebseigener Konzepte. In komplexen Lern- und Entwicklungsarchitekturen werden die Mitarbeitenden über einen gewissen Zeitraum hinweg dazu eingeladen, sich intensiv mit den Problemlagen ihres konkreten Arbeitsalltags auseinanderzusetzen und gewissermassen selbst inhaltliches «Fleisch an den Knochen zu bringen». Es geht um die Hervorbringung und Verständigung über neues kollektives Wissen sowie die selbstorganisierte Entwicklung von sinnvollen und angemessenen Kompetenzen. Das Ziel ist die Entwicklung einer Coop-spezifischen Variante professioneller Lernbegleitung. In einem derartigen Changeprozess werden Form (selbstorganisiertes Lernen) und Inhalt (Lernbegleitung) mit dem Ziel in Übereinstimmung gebracht, dass sich die Teilnehmenden selbst – in individuellen, kollaborativen und kooperativen Settings – neue Handlungs- und Gestaltungsperspektiven für ihren konkreten Berufsalltag als Trainer*in erarbeiten.

Sinnbildlich für dieses gemeinsam von der Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung und dem Coop Campus Aus- und Weiterbildung national getragene Entwicklungsprojekt «Vision Lernbegleitung 2030 am Coop Campus» steht der nun nachfolgende «institutionelle Dialog». Basierend auf einem Gespräch mit Benni Lurvink (Coop Campus Ausbildung national) und René Graf (zuletzt als Leiter Talentmanagement bei Coop tätig und langjähriger Präsident von Bildung Detailhandel Schweiz) wurden die wesentlichen Etappen der Zusammenarbeit reflektiert und die Potenziale des spezifischen Zusammenspiels von Weiterbildungsforschung, Organisationsentwicklung und lernkulturellem Changeprozess herausgearbeitet.

3 Von der Wissensvermittlung zur Lernbegleitung 

Wir steigen mit der Frage nach den Besonderheiten der gemeinsamen Entwicklungsarbeit ein, die sich zwischen der Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung und dem Coop Campus Aus- und Weiterbildung national etablieren konnte.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Das Interessante an der von uns gewählten Form der Entwicklungsarbeit ist ja, dass auf der Grundlage der analysierten Spannungsfelder in Eurer betrieblichen Weiterbildungspraxis die Vision einer selbstorganisierten Lernkultur am Coop Campus entstehen konnte. Zu Beginn ging es schlicht darum, Abstand zu gewinnen von der puren Wissensvermittlung und ein anderes Lernen zu ermöglichen. Erst dabei zeigte sich Euch, dass dies auch eine neue Rolle für die Trainer*innen mit sich bringt: Das war die Geburtsstunde der Vision «Lernbegleitung». Wenn ihr nun die verschiedenen Etappen der Lern- und Entwicklungsarchitektur betrachtet, die wir konzipiert haben, damit ihr an der Realisierung dieser Vision arbeiten könnt – worin liegen die Besonderheiten dieser gemeinsamen Entwicklungsarbeit?  

Coop: Das Neue für uns war, dass das Lernen in diesen Entwicklungsprozessen nie aufhört, dass es in Eurer Konzeption des «selbstsorgenden Lernens» ja immer weitergeht. Wie ihr uns das auch immer wieder gesagt habt: «Lernen als Prozess ist unabschliessbar.» Es gibt immer wieder etwas zu entdecken und zu analysieren. Je mehr man erfährt und versteht, je mehr neue Fragen stellen sich einem plötzlich. Das war für uns ungewohnt. Wir fragten uns, wollen wir das überhaupt so – gewissermassen nie ankommen, sondern immer auf der Suche bleiben? Das hat Zeit gebraucht. Aber diese Grundsatzfrage müssen wir heute nicht mehr diskutieren. Wir alle wissen und verstehen, dass es keinen anderen Weg für Unternehmen gibt, als in diese Dynamik zu kommen: Neue Fragen zu entwickeln ist eigentlich wichtiger als Antworten zu geben. Ein Highlight als Organisation ist sicher auch, dass es bei der Aus- und Weiterbildung von Coop mittlerweile ein fast einheitliches Verständnis gibt, dass wir das so, wie wir es früher gemacht haben, nicht mehr haben wollen. Dass wir auf einem Weg und überzeugt davon sind, dass wir uns von vielen Gewohnheiten tatsächlich bereits verabschiedet haben. Dass wir von Selbstverständlichkeiten, die heute einfach nicht mehr gehen, wie z.B. purer Frontalunterricht oder stundenlange Vorträge, Abstand gewonnen haben. 

Dies sehen wir auch ganz konkret am Thema Handlungskompetenzorientierung, das ja im Zusammenhang mit der Grundbildung und Lehrplan 21 wichtig wurde. Wir sind uns bewusst, die Bildungslandschaft in der Schweiz befindet sich in einem grundsätzlichen Veränderungsprozess. In diesem Zusammenhang hatten viele von uns zu Beginn unserer gemeinsamen Entwicklungsarbeit das Bedürfnis, ein fixfertiges Konzept für die betriebliche Aus- und Weiterbildung zu bekommen, das sich dann einfach umsetzen lässt. In der Anfangsphase unserer Zusammenarbeit kam deshalb häufiger die Frage «Wie muss man es denn jetzt machen?» Oder «Sagt uns doch endlich mal, was wir zu tun haben!» Ich persönlich hatte in einer Phase, als wir auf ein konkretes konzeptionelles Entwicklungsproblem stiessen, auch selbst das Bedürfnis, endlich zu erfahren, wie es denn nun «konkret geht». Die gemeinsame Reflexion darüber war allerdings ein Schlüsselerlebnis: Ich verstand anschliessend, dass der Weg ein anderer ist. Es ist genau das, was wir mit dem selbstorganisierten Lernen auch wollen, nämlich eigene Erfahrungen machen, um Probleme aufzuspüren und selbstständig Lösungen zu entwickeln. Das ist etwas ganz Entscheidendes: Es geht nicht zuletzt darum, diese Erfahrungen überhaupt erst zu ermöglichen, die einen verändern. Natürlich haben wir heute schon mehr Ideen und Forschung dazu, wie es gehen könnte, aber jeder und jede muss seine und ihre eigenen Erfahrungen mit dieser neuen Idee, mit Lernbegleitung machen. Das ist ein zentraler Punkt.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: In der methodisch-didaktischen Gestaltung unserer Weiterbildungsformate geht es ja vielfach genau darum, das Wesentliche, die alltägliche Relevanz eines Gegenstands «erfahrbar zu machen». Wir sagen dann immer: Zunächst braucht es die Anschauung, dann den Begriff. Die spezifisch hier am Coop Campus von uns gemeinsam angelegte Lern- und Entwicklungsarchitektur hat sich diesem Grundsatz folgend ja selbst zu einem «didaktischen Doppeldecker» entwickelt. Wie würdet ihr diesen Prozess beschreiben? 

Coop: Zu Beginn haben wir ja ganz offensichtlich Euch als Professur der PH FHNW beauftragt, das Weiterbildungssetting für uns zu gestalten und damit die Rolle der Lernbegleitung für die gesamte Trainer*innen-Equipe inklusive der Ausbildungsleitung zu übernehmen. Nach und nach habt ihr aber gezeigt, dass es damit nicht getan ist. In einem nächsten Schritt wurden die Konzeptionen und die Ausgestaltung der Weiterbildungstage unter Eurem stets wohlwollenden aktivierenden Blick nach und nach zur Sache der Ausbildungsleitung. Bis schliesslich heute tatsächlich jeweils eine Gruppe von Trainer*innen für die Kolleg*innen selbst inspirierende Weiterbildungstage gestaltet und durchführt. Wir sind also mittlerweile so weit, dass Teilnehmende ihre eigene Weiterbildung konzipieren und realisieren. Das sind schon Quantensprünge für uns. 

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: In der Tat sind hier riesige Entwicklungsprozesse zu beobachten. Sowohl bei einzelnen Lernbegleiter*innen, aber eben tatsächlich auch im Kollektiv. Wichtig ist vielleicht noch zu erwähnen, dass dieses selbstorganisierte Lernen nicht einfach bedeutet, alle machen jetzt mal wie und was sie wollen. Die lernkulturelle Entwicklungsarbeit ist eingebettet in einen grösseren Strukturwandel: Wir haben Teilprojekte organisiert und strukturell eingebettete Gefässe geschaffen, die jeweils bestimmte Teilaspekte des selbstorganisierten Lernens und der Handlungsfigur Lernbegleitung akzentuieren.

3.1 Struktur- und Entwicklungslogik selbstorgansierter Lernkulturen

Diese situativ generierten und mittlerweile etablierten Strukturgefässe dienen nun einerseits der individuellen Auseinandersetzung mit der eigenen professionellen Rolle «Lernbegleitung»; sie befördern darüber hinaus auch die kollektive Entwicklungsarbeit. Sie tragen häufig lustvolle Titel wie «Erkundungssetting», «Street-Food-Festival» oder «Unter der Lupe» oder das «Coop Summercamp 2021». Hierbei handelt es sich um ein Teilprojekt, welches aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2021 relativ kurzfristig als digitales Weiterbildungsformat realisiert werden konnte. Entstanden ist dabei eine auf Basis der didaktisch-methodischen Entwicklungslogik des selbstsorgenden Lernens (Klingovsky & Kossack, 2007) aufbauende prototypische Online-Selbstlernarchitektur. In dieser komplexen, multimedialen Lernumgebung hatte die Coop-Trainer*innen-Equipe über zwei Monate hinweg Gelegenheit, sich auf individuellen Lernwegen und in kooperativen Gefässen mit den Strukturen, Bedingungen und Handlungsoptionen zu Fragen des selbstorganisierten Lernens und der neuen professionellen Grundfigur Lernbegleitung auseinanderzusetzen.

Wir sind überzeugt davon, es sind genau diese «Zwischenräume», in denen das neue kollektive Wissen und die Handlungskompetenzen für eine neue Lernkultur am Coop Campus entstehen. Gegenwärtig arbeiten wir aufgrund vieler neu zu integrierender Mitarbeitender und dynamisch sich ergebenden Fragestellungen auch häufig mit sog. Tuchfühlungsworkshops, bei denen sich eine Gruppe von Trainer*innen relativ kurzfristig zur Auseinandersetzung mit eben jenen dringlichen Fragestellungen zusammenfindet.

Coop: Mit diesen Tuchfühlungsworkshops haben wir ein echtes Highlight geschaffen! Darin wird so intensiv an konkreten, sich aus der Praxis ergebenden Fragen gearbeitet. Das bringt uns alle weiter. Wir arbeiten am Coop Campus auch mit Leitbildern. Eines davon ist: Wir sind eine lernende Organisation. Aber was das genau heisst, das sieht man nun hier in diesem Prozess wunderschön. Wir sind als «Lernende Organisation Aus- und Weiterbildung» hier lernend unterwegs, schaffen uns selbst eine selbstorganisierte Lernkultur und realisieren damit eine coopspezifische Form von Lernbegleitung. Momentan stellen wir uns z.B. die Frage, wie wir auch Vorgesetzte als Lernbegleitende ihrer Mitarbeitenden gewinnen können resp. wie das Lernen in den Verkaufsstellen durch das Konzept Lernbegleitung angereichert werden kann. Wenn ich die Bildungslandschaft und ihre Institutionen in der Schweiz anschaue, da sind wir heute nicht schlecht unterwegs. Diese manchmal auch etwas lästige Hartnäckigkeit, dieses Durchgehen auch durch Widerstände und Behäbigkeiten, das hat es aber sicher dazu gebraucht, den Wert der Anstrengungen zu erkennen. 

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Das Bild der lernenden Organisation passt auch hervorragend zu dem, was eingangs gesagt wurde, dass das Lernen unabschliessbar sei und man mit Entwicklungsarbeiten ja nie fertig ist. Eine unserer massgeblichen Beschäftigungen betrifft die Umgestaltung und Neukonzeption von Kurskonzeptionen in der Form sogenannter Drehbücher. Auch hier herrschte lange Zeit die Auffassung vor, ist der Kurs erst einmal entwickelt, steht der Kurs so für die kommenden Jahre. Wir beobachten nun allerdings, dass eine Kurskonzeption vielmehr als ein «lebendiger Organismus» zu betrachten ist. Schliesslich lebt die Konzeption von den Teilnehmenden und stärker als bisher sind analytische Fähigkeiten gefragt, um je einmalige Kurssituationen «lesen» zu lernen und in der Situation lernförderliche Anschlusssituationen zu entwerfen, in denen gewünschte Effekte entstehen können. Diese professionelle Handlungskompetenz, Lernen in Situationen zu ermöglichen, ist höchst anspruchsvoll und erfordert eine permanente Aufmerksamkeit im Kursgeschehen. Sie ist nichts, was man einmal «hat», sondern eher – wie Dieter Nittel das ausdrückt, eine situativ je neu hervorzubringende berufliche Leistung (Nittel, 2000, S. 85). Diese Leistung der Trainer*innen ist kein mechanisches Handwerk, da kann einem auch nicht einfach «mal gezeigt werden, wie das geht». Es verweist auf ein spezifisches Verständnis des individuellen Lernens und von lernender Organisation, das im Bild eines kybernetischen Regelkreises eben gerade nicht aufgeht.

Coop: Vor einigen Jahren hatten wir ja in der Berufsbildung eine Reform des Lernens eingeläutet. Damals als Pilotunternehmen im Detailhandel. Zunächst schien es so, als kämen wir mit einer externen Firma, die damals beauftragt wurde, relativ schnell vorwärts. Man hat da die Grundbildung umgekrempelt und aus Lernzielen hat man Handlungskompetenzen gemacht und so weiter. Am Schluss mussten wir der Firma das, was wir erarbeitet hatten, auch zur Korrektur vorlegen. Diese Vorgehensweise war damals attraktiv für uns, weil es schneller geht, linearer ist und damit auch klar ist, was als Nächstes zu tun ist. Heute würde ich sagen, unser offenes, suchendes Vorgehen verspricht vielleicht weniger «Sicherheit oder Klarheit», es ist deutlich sperriger und sicher unbequemer, aber es öffnet den Raum für die wirklich wichtigen Fragen: Haben wir es hier tatsächlich schon mit einer im Alltag relevanten Handlungskompetenz zu tun oder schreiben wir anstatt «Lernende müssen wissen» (Lernziel) einfach nur «Lernende müssen können» (Handlungskompetenz)? Kurz, es geht eben darum, sich mit dem eigenen Tun auseinanderzusetzen. Wir sehen heute, dass diese dafür notwendige Haltungsänderung ganz anders angegangen werden muss. Das finde ich faszinierend. Die Veränderung von Haltungsfragen ist kein Selbstläufer, kann nicht einfach mittels Appell und Instruktion vermittelt, sondern muss vielmehr sinnhaft erlebt und praktisch geübt werden. Aber genau diese Prozesse, die wir da anstossen, die gehören ja zum lebenslangen Lernen. Man kann hier also auch einiges über das eigene Lernen lernen. Die Kursteilnehmenden, die wir in den neuen Lehrgängen begleiten, bekommen das automatisch mit. Ich glaube, damit sind wir letztendlich auch viel effektiver unterwegs.

3.2 Von der Lernkultur zur Unternehmenskultur und wieder retour

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Das ist eine gute Überleitung zur nächsten Frage. Wenn wir uns vor Augen führen, dass es in unserer Zusammenarbeit ja stets darum geht, den Mitarbeitenden von Coop neue Lern- und Entwicklungsräume zu eröffnen… Was ist denn aus Eurer Sicht der Mehrwert eines solchen Lernens für Euren unternehmerischen Alltag?

Coop: Sicher wird über die Lernerfahrungen in unseren Kursen für die Kursteilnehmenden selbst ein Mehrwert generiert. Ein Schlüsselerlebnis war auch hier die Rückmeldung einer Person, die gesagt hat, «du hast uns aus der Komfortzone geholt». Die Person berichtete, dass sie davon ausgegangen sei, man könne an diesen Kurs kommen, jemand erzähle da dann was, ein wenig Gruppenarbeit und viel konsumieren. Und dann hat die Person gemerkt, ah nein, ich muss auch selber aktiv werden! Ich glaube, wenn das jemand realisiert und wenn das mittelfristig zur Kultur wird, ist das wirklich auch ein Mehrwert, nicht nur für den Einzelnen, sondern für das Unternehmen insgesamt. Ja, das Gegenstück der Konsumhaltung ist das Mitgestalten, das Übernehmen von Verantwortung, und das beginnt jeweils im eigenen Bereich. Ein persönliches Aha-Erlebnis steigert dabei den Umsetzungswunsch im eigenen Alltag um ein Vielfaches. In diesem Mitgestalten liegt einfach viel Potenzial drin, bis hin zur Kulturveränderung.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Diese Aha-Erlebnisse sind auch für die Trainer*innen-Equipe fundamental. Immer wenn verstanden wird, wie die eigene Lehrpraxis mit Bildungsmöglichkeiten von Menschen im Unternehmen zusammenhängen, lässt sich erkennen, dass es unzählige Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Dies schafft ein Verständnis dafür, wie derartige Sinnstiftungsprozesse angestossen werden können. Eine zentrale Erkenntnis ist ja, dass wir in der Weiterbildung nicht nur selbstorganisiertes Lernen, sondern auch Prozesse unternehmerischer Mitbestimmung und -verantwortung impulsieren!

Coop: Ja, sehr schön! Vielleicht müssten wir Kursteilnehmende in der Zukunft sogar als «Mitgestaltende» bezeichnen. Das ist ein schöner Gedanke, weg vom Teilnehmen hin zum Mitgestalten.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: René hat diesen Zusammenhang im Kontext einer Veranstaltung einmal so hergestellt: Das Besondere an der lernkulturellen Entwicklungsarbeit am Coop Campus ist es, dass hier eine Lernkultur wirklich «bottom-up» entwickelt und verändert wird. Damit sind wir dann bei der nächsten spannenden Frage: Wenn es also die Menschen vor Ort sind, die die Dinge eigentlich in die Hand nehmen und verändern, welche Voraussetzungen, Bedingungen und Strukturen werden dann im Unternehmen benötigt, um solche Entwicklungsprozesse zu eröffnen, möglich zu machen, zu realisieren?

Coop: Also wenn ich jetzt Coop als Unternehmen anschaue, dann wurde all dies möglich, weil wir in der Ausbildung auch einfach mal starten konnten. Bildung ist bei Coop ein Teil der Unternehmenskultur und die Coop-Ausbildung im Unternehmen per se verankert. Hier mal ein Gedankenexperiment: Im Durchschnitt sind unsere Mitarbeitenden einen Tag pro Jahr bei uns in der Weiterbildung. Das ist nicht viel, um Kultur zu prägen. Aber diese Unternehmung zeigt sich auch in unserer Führungskultur. Wenn du bei Coop eine Führungskraft werden willst, dann durchlaufen 80 Prozent der Führungskräfte ein Management- und Leadership-Programm. Und das gestalten wir. Das sind oft über 20 Tage, an denen wir Werte und Verhaltensweisen thematisieren und unsere Gedanken mitgeben können. Möglich wird das auch in unseren Zielsetzungsworkshops, die wir konzipieren und an denen über 10’000 Kadermitglieder teilnehmen.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Es liessen sich vor diesem Hintergrund zwei spezifische Aspekte festhalten: Die Lernkultur hat erstens, mindestens in eurer Konstruktion von Unternehmen, grossen Einfluss auf die Führungskultur. Und die zweite Erkenntnis ist, dass die geschaffenen Rahmenbedingungen von Bedeutung sind, in denen sich Menschen entwickeln dürfen und können. Wenn es eine Lern- und Weiterbildungskultur gibt, die sichtbar aufzeigt, dass man Räume gestalten kann und dass Menschen darin etwas lernen und sich entwickeln – und dies ist sehr davon abhängig, welche Art «Räume» ich gestalte – dann hat dies wiederum einen wesentlichen Einfluss auf die Unternehmenskultur.

3.3 Weiter auf dem Weg zu einer «cooperativen» Lernkultur am Coop Campus 

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Auf dieser Grundlage lässt sich nun auch unsere letzte Frage konturieren. Mit Blick auf die «Vision Lernbegleitung 2030 am Coop Campus», wo stehen wir denn gegenwärtig mit dieser Entwicklungsarbeit? Was macht euch sicher, diesen Weg weiterzuverfolgen? Welche wichtigen Schritte stehen noch an?

Coop: Ich bin überzeugt davon, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. Wir werden immer konkreter. Ich mache zwei Beispiele. Ein Thema, das immer wiederkehrt, ist die Frage nach dem Abschluss unserer Weiterbildungen. Wir setzen hierfür den sicher üblichen Begriff «Kompetenznachweis» ein. Heute sind wir so weit, dass den meisten Trainer*innen bewusst ist, dass es einen Kompetenznachweis zwar braucht, aber dass diese Nachweise unterschiedlich aussehen können, ja aufgrund der unterschiedlichen Inhalte auch unterschiedlich aussehen müssen. Wir haben auch verstanden, dass jeder Kurs ein Drehbuch benötigt, aber die können a) sehr unterschiedlich aussehen und sie sollten b) den situativen Gebrauch nicht als Abweichung, sondern als Normalfall sehen. Ich glaube, da sind wir jetzt. Viele gute Ideen und Gedankengänge sind bereits in der Entwicklung und es geht vorwärts. 

Aber was wir heute zum Teil noch haben, ist ein – wie ich es nenne – gewisses «Themenhopping». Wir haben zum Beispiel immer noch Kurse, in denen die Themen einfach schön aneinandergereiht «vermittelt» werden. Heute wollen wir bewusst wegkommen von diesem Experten-Auftreten und eher nachfragend auftreten – und damit Themen und Herausforderungen für die Teilnehmenden – oder besser Mitgestaltenden – wesentlich zielgenauer erfahrbar machen.

Professur Erwachsenenbildung/Weiterbildung: Ja, das ist stimmig. Und wozu die Erwachsenenbildung ja tatsächlich beitragen kann, ist das, auf was wir immer wieder mit dem Konzept der «Generativen Themen» hinweisen. Zu fragen: Worum geht es hier wirklich? Die Reduktion auf die Essenz, den Sinn herauszufiltern, um in dieser bedeutsamen Funktion zu Sinnstifter*innen zu werden. Es wird sehr spannend bleiben, diese Entwicklungen mit Euch weiter voranzutreiben! Wir danken Euch sehr herzlich für dieses Gespräch.

Coop: Danke an Euch für die vertrauensvolle und produktive Zusammenarbeit.

4 Fazit

Ausgehend von der These, dass eine entwicklungsfördernde und dynamische Lernkultur einen Beitrag zur Sicherung individueller Beschäftigungsfähigkeit sowie zur Sicherung betrieblicher Zukunftsfähigkeit leisten kann, wurde in diesem Beitrag die Frage untersucht, welche Strukturen und Bedingungen in der betrieblichen Weiterbildung des Handelsunternehmen Coop geschaffen wurden, um selbstorganisiertes Lernen und die professionelle Rolle der «Lernbegleitung» zu fördern und zu professionalisieren. In einem rekonstruktiven Gespräch zwischen der Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung und den Coop-Verantwortlichen wurden die wesentlichen Etappen der Zusammenarbeit reflektiert und die spezifischen Wechselwirkungen von Weiterbildungsforschung, Organisationsentwicklung und lernkulturellem Changeprozess herausgearbeitet. Dabei konnte deutlich werden, dass es in der gemeinsamen Beratungs- und Entwicklungsarbeit nicht einfach darum geht, ausgehend von einer Standortbestimmung einen Zielzustand zu definieren, sondern über eine spezifische Struktur- und Entwicklungslogik Veränderungsimpulse zu setzen, in denen zu einer betriebseigenen Form von selbstorganisierter Lernkultur gefunden werden kann. Dabei geht es stets um das analytische Durchdringen der eigenen Praxis auf mikro-, meso- und makrodidaktischer Ebene und dem Entwurf einer neuen lernkulturellen Praxis im Modus der Imagination. Und für ebendiese Gewinnung neuer Perspektiven erweist sich das Zusammenspiel von Weiterbildungsforschung und Organisationsentwicklung als äusserst fruchtbar.

Literatur

Klingovsky, Ulla; Kossack, Peter (2007): Selbstsorgendes Lernen gestalten. Bern: Hep Verlag.

Klingovsky, Ulla (2021): Empirie im Kursraum – (An)Ordnungen des Lehrens und Lernens unter den Bedingungen der Digitalität. In: Christian Bernhard-Skala, Ricarda Bolten-Bühler, Julia Koller, Matthias Rohs und Johannes Wahl (Hrsg.). Erwachsenenpädagogische Digitalisierungsforschung. Impulse. Befunde. Perspektiven, S. 39–54. Wbv.

Nittel, Dieter (2000): Von der Mission zur Profession? Stand und Perspektiven der Verberuflichung in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Wbv.

Schäffter, Ortfried (2003): Institutionelle Selbstpräsentation von Weiterbildungseinrichtungen: Reflexion pädagogischer Organisationskultur an institutionellen Schlüsselsituationen. In: Dieter Nittel und Wolfgang Seitter (Hrsg.). Die Bildung des Erwachsenen. Erziehungs- und Sozialwissenschaftliche Zugänge. S. 165–184. Bertelsmann.

  1. Mehr zu diesem Masterstudiengang Educational Sciences in der Vertiefungsrichtung Erwachsenenbildung unter https://bildungswissenschaften.unibas.ch/de/masterstudium/educational-sciences/studienstruktur/#c11179