24.05.2022
N°1 2022

Weiterbildung in der Krise: Chancen einer bedarfsorientierten Angebotsentwicklung

Die Nachfrage nach Weiterbildung ist eingebrochen. Anbieter haben Organisationsstrukturen angepasst, Personal abgebaut und Teile des Angebots digitalisiert. Sie hoffen, dass sich die Nachfrage erholt, und vermarkten das Angebot teils auf digitaler, teils auf Präsenzbasis. Die Frage ist, ob das vermarktete Angebot bedarfsgerecht ist. Denn die Pandemiekrise dürfte Lernbedürfnisse und Lernvoraussetzungen verändern. Dies erfordert zuallererst die Abklärung der Lernbedarfe. Derzeit geht der Trend jedoch in eine andere Richtung. Anbieter tendieren dazu, anstelle der Lernbedarfsabklärung das Produktmarketing zu forcieren. Was das Ausbildungspersonal in seinem Bemühen, Lernbedürfnissen gerecht zu werden, nicht unbedingt unterstützt. Nur eine solide Bedarfsabklärung liefert die Basis für einen vollständigen Angebotsprozess. Und schafft Vertrauen auf der Nachfrageseite. 

Pandemiekrise und die Hoffnung auf Normalisierung der Nachfrage

Die Weiterbildungsbranche kämpft mit den Folgen der durch die Pandemie ausgelösten Krise. Die Einschnitte der letzten Jahre setzen die Akteure massiv unter Druck. Nach Ausbruch der Pandemie haben viele Anbieter für ihre Programme und Veranstaltungen digitale Lösungen realisiert. Die Nachfrage ist vielerorts dennoch eingebrochen, was sich in der amtlichen Statistik der Weiterbildungsteilnahme für 2020 klar zeigt (BFS 2021). Die Anbieter-Perspektiven sind getrübt: 2020 rechneten die in der Weiterbildungsstudie 2020/2021 befragten Anbieter in der Schweiz mit Umsatzeinbussen von durchschnittlich 28% (Gollob et al. 2021); rund zwei Drittel der Anbieter haben Mitarbeiterpensen reduziert und Lehraufträge an Externe gestrichen. 2021 haben sich die negativen Umsatzerwartungen gemäss einer weiteren Befragung weitgehend bestätigt, man erwartete eine nur langsame Erholung (Poopalapillai et al. 2021, S. 3 f.). Betriebe, Mitarbeitende und freischaffende Kursleitende sind mit wirtschaftlichen Existenzfragen konfrontiert.

Ein neuer Aufschwung der Weiterbildung hängt von der baldigen Erholung der Nachfrage ab. Sie ermöglicht, so die Hoffnung, Programme wiederzubeleben, digitale Aktionsräume zu erschliessen und die Geschäftsbasis zu verbreitern. Die Hoffnung ist nachvollziehbar und insofern begründet, als viele Lehr-Lern-Settings bereits auf Fernunterricht und digitale Plattformen umgestellt wurden (Gollob et al. 2021, 24f.). Aber selbst wenn sich die Nachfrage mittelfristig wieder dem Vorkrisenniveau annähert, stellen sich für Anbieter grundsätzliche Fragen: Werden bisherige Geschäftsfelder Bestand haben, werden Zielgruppen digital überhaupt erreichbar sein? Pandemie und Digitalisierung stellen gleichzeitig hohe Anforderungen an die Betriebe in einem instabilen Marktumfeld. Konkurrenzverhältnisse, Anbieterstrukturen und Tätigkeiten der Erwachsenenbildung dürften sich verändern (Schenkel 2019). Und das digitale Geschäft operiert transnational. Branchenfremde Technologiekonzerne sind längst ins Bildungs- und Eventgeschäft eingestiegen (Grotlüschen 2018). 

Eine Geschäftsstrategie, die auf die Stimulierung der Nachfrage setzt, trifft somit auf strukturelle Unsicherheiten. Lernbedarfe und Lernvoraussetzungen, d. h. der Nachfrage vorgelagerte Faktoren, dürften sich in der Krise ebenfalls verändern. Sie tun dies schon länger, weil Arbeitsverhältnisse flexibilisiert wurden und Ansprüche an die Work-Life-Balance gestiegen sind. Die aktuelle Krise hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Unter dem Regime von Social Distancing und Shutdowns ist die Weiterbildungsteilnahme in vielen Ländern gesunken. Zielgruppen haben den Zugang zur Weiterbildung verloren, weil es ihnen an Lernmöglichkeiten, Medienkompetenz und zeitlicher Verfügbarkeit mangelt. So etwa in der betrieblichen Weiterbildung: Gemäss einer explorativen Studie der OECD (2021) sind in Wirtschaftszweigen, die ihre Leistung nicht online erbringen konnten (z.B. viele Dienstleistungen), in den langen Phasen betrieblicher Einschränkung die weniger Qualifizierten von Lernmöglichkeiten abgeschnitten worden. Prekär Beschäftigte sind zudem von Erkrankungsrisiken überdurchschnittlich betroffen. Für sie alle könnte sich der Horizont lebenslangen Lernens verengen und verkürzen (Käpplinger 2020), was auch die Nachfrage tangiert. Leider sind die Zusammenhänge zwischen Krisen, Prekarität und Weiterbildungsverhalten nach wie vor wenig erforscht (Hufer 2021).

Ein erstes Fazit lautet: Liegt der Fokus auf der Stimulierung bekannter Nachfragemuster, so besteht die Gefahr, dass veränderte Marktstrukturen und Lernbedarfe nicht die nötige Beachtung finden. Dies könnte zu Lasten einer nachhaltigen Krisenbewältigung gehen. Zukunftsfragen des Weiterbildungssystems, z. B. Bedarfsgerechtigkeit, Kohärenz der Bildungspfade und Chancengerechtigkeit, blieben im Hintergrund. Die Anbieterlogik, die primär auf den Erfolg im eigenen Geschäftsfeld fokussiert, würde weiterhin die Entwicklung der Branche bestimmen.  

Anbieterlogik und Marktregime prägen die Weiterbildungsbranche in der Schweiz

Die Anbieterlogik passt zum Marktregime, das für weite Teile des schweizerischen Weiterbildungssystems ein kompetitives Anbieterverhalten fordert und seinen Erfolg am Absatz und an wirtschaftlicher Effizienz misst. «Nicht die Loyalität gegenüber dem zu bildenden und bildungswilligen Subjekt steht im Vordergrund, sondern die Vorstellung, Bildung und Weiterbildung gewinnbringend zu vermarkten.» So beschrieb Weber (2009, S. 68) vor Jahren die Ausgangslage anlässlich der Erarbeitung eines Weiterbildungskonzepts für den Kanton Zürich. Das Eigeninteresse des Anbieters, am Markt zu überleben und Marktanteile zu sichern, wiegt mehr als etwa die Frage, wie die Lernbedarfe von Zielgruppen genau beschaffen sind; und wie aus der Teilnahme an disparaten Kursen schliesslich lernbiografisch wirksame Qualifizierungsschritte hervorgehen.

Die Verbindung von Anbieterlogik und Marktregime dominiert auch die Weiterbildungspolitik. Der Staat, insbesondere der Bundesstaat, steht für eine liberale Ordnungspolitik, die auf Marktkräfte und Selbstregulierung vertraut. Nur in der (systemrelevanten) höheren Berufsbildung legt der Staat selber die Ausbildungsstufen und Abschlüsse fest und beauftragt korporative Akteure – Berufsverbände, Bildungsanbieter – mit der Durchführung. Finanzbeiträge adressiert er an die Nachfrageseite, da dies den Wettbewerb der Anbieter stärke. Diese sollen die Nachfrage auf ihr Angebot lenken. Der Markt wird so zum «wichtigsten Evaluator von Weiterbildung», wie Hauser (2011) kritisch anmerkt. Diese ordnungspolitischen Leitlinien sind im nationalen Weiterbildungsgesetz (WeBiG 2014) festgeschrieben: Günstige Rahmenbedingungen für Anbieter (Art. 4), individuelle Verantwortung für die eigene Weiterbildung (Art. 5) und Wettbewerbsneutralität jeglicher staatlicher Massnahmen (Art. 9) sind seine Grundsätze.

Das Marktregime trägt indessen ambivalente Züge. An grossen, volatilen Weiterbildungsmärkten gilt Laissez-faire, Teilbereiche sind jedoch korporatistisch geregelt (Geiss 2020). Jenseits des liberalen Diskurses erweist sich das Regime als indirekt struktursetzend, indem es die von marktmächtigen Anbietern etablierten Angebotsstrukturen und Marktregeln fraglos akzeptiert. Die Notwendigkeit, eine staatliche Agenda der Qualifizierungs- und Strukturpolitik zu definieren, wird negiert (Schöni 2017, 46 f.). Solche Regimes sind – länderspezifisch ausgeprägt – in Europa verbreitet, seit eine neoliberal gewendete Wirtschaftspolitik die marktförmige Organisation der Bildung durchsetzt. Die Weiterbildungsforschung diskutiert solche Regimes unter dem Begriff «Marketisation» (vgl. Fejes et al. 2016; Košmerl & Mikulec, 2021).

An der engen Verbindung von Anbieterlogik und Marktregime dürfte sich derzeit wenig ändern. Anbieter, die nach dem pandemiebedingten Einbruch ihre Organisationsstrukturen verschlankt und Angebot und Personal justiert haben, werden in der Lage sein, in ihren Geschäftsfeldern wirtschaftliche Nachfrage zu erzeugen. Koordination im Angebotssegment und in Teilsystemen der Weiterbildung dürfte auch künftig kein vorrangiges Thema sein. So dass uns Volatilitäten im Angebot, strukturelle Ungleichheiten im Zugang und Inkohärenzen der Bildungssystematik erhalten bleiben dürften, nun aber potenziert durch die Möglichkeiten der Vermarktung im digitalen Raum. Erster Bezugspunkt der Angebotsentwicklung bleibt somit das Absatzpotenzial. Was bedeutet dies für den Angebotsprozess der Weiterbildung, der nach professionellem Verständnis die Lernbedarfsabklärung, Konzeption und Planung, Durchführung und Evaluation umfasst?

Bildung an der Nachfrage ausrichten bedeutet, den Angebotsprozess kurzzuschliessen 

Die Branche versteht sich seit jeher als Dienstleisterin, die Bedürfnisse lebenslangen Lernens erkennt und passende Angebote konzipiert. Faktisch bietet sie jedoch an, was sich absetzen lässt. Ihr Angebot sucht die wirtschaftliche Nachfrage in den gängigen Themenfeldern der offenen oder teilregulierten Weiterbildungsmärkte. «Marktkonformes» Verhalten entspricht nicht bloss der gesetzlichen Norm, es ist Voraussetzung staatlicher Auftragsvergabe und Subvention. Öffentliche Ausschreibungen machen Aufträge von der Marktperformanz der Auftragnehmer abhängig; und subventioniert werden Programme, wenn sie für die Wirtschaft als relevant eingeschätzt sind, am Markt aber (noch) nicht eigenwirtschaftlich operieren.

Wobei «der Markt» nicht die unbegrenzte Vielfalt an förderlichen Lernangeboten bereitstellt, sondern eine Selektion von Angeboten, welche die Kräfteverhältnisse am Markt widerspiegelt. Dieser repräsentiert die Gesamtheit der Produktportfolios, Marktsegmentierungen und Performanzkriterien, die von marktbestimmenden Akteuren im eigenen Geschäftsinteresse durchgesetzt wurden. Was sich in gegebenen Marktstrukturen absetzen lässt, ist nicht notwendigerweise das, was Lernbedarfe präzise deckt und zum Lernen optimal beiträgt. Sondern das Angebot, das Nutzungspräferenzen des Alltags – Erwartungen, Kostenargumente, zeitliche Vereinbarkeit usw. – am besten bedient. Das Marketing deutet die Nachfrage, nach dem Vorbild der Konsumgüterbranche, als Manifestation von Lernbedürfnissen, die zum Kaufentscheid geführt haben. Analoge Deutungen finden sich auf der Nachfrageseite: Bildungsinteressierte und institutionelle Abnehmer stützen sich bei der Suche nach Angeboten mangels präziserer Information oft auf das Kaufverhalten anderer, das sie auf vergleichbare Lernbedürfnisse zurückführen.

Indem die Marketingpraxis also Nachfrage und Lernbedarfe gleichsetzt, lässt sie wichtige Schritte im Angebotsprozess aus, sie schliesst ihn gewissermassen kurz. Sucht sie doch die wirtschaftliche Nachfrage möglichst direkt, ohne «Umweg» über die Klärung von Lernbedarfen und -bedürfnissen. Ob Letztere richtig adressiert wurden, entnimmt sie dem Absatz des Kursproduktes. Sie justiert Angebotskonzepte in ihren Nutzen- und Kostenaspekten so lange, bis sie am Markt genügend nachgefragt und eigenwirtschaftlich sind (Schöni 2017, S. 250 f.). Dies kann zur Effektivierung von Lernwegen führen, muss aber nicht. Der Anbieter erhält auf diese Weise bereits bei der Markteinführung Aufschluss über Rezeption und Nachfragepotenzial des vermarkteten Objekts. Dies reicht ihm für die Erfolgsbewertung des Angebots, solange er vor allem auf den Absatz schaut. Sein Aufwand fällt so geringer aus, als wenn er für die Beurteilung den ganzen Angebotsprozess – von der Bedarfsabklärung bis zur Evaluation – zugrunde legen würde. Da er den Lernbedarf nicht ermittelt hat, braucht er Outcomes auch nicht daran zu messen. In diesem Geschäft obliegt es somit faktisch den Lernenden, den Angebotsprozess zu «vervollständigen», das heisst: den eigenen Lernbedarf richtig zu erfassen, das dazupassende Lernangebot zu identifizieren und nach dessen Abschluss den Nutzen in der Praxis zu evaluieren. 

Weshalb Marketing den vollständigen Angebotsprozess dennoch nicht überflüssig macht 

Marketing dient also dazu, Nachfrage zu wecken, sie auf ein Angebot zu lenken und dieses zu wirtschaftlichen Konditionen zu realisieren. Es präsentiert das Angebot am Markt als «Lernwelt», das alle Bedürfnisse abbildet und individuellen Erwartungen eine Projektionsfläche bietet. Für die gezielte Kundenansprache werden Märkte vorgängig analysiert und segmentiert, es werden Produktpräferenzen getestet. Weiterbildungsinteressierte werden als aufgeklärte Konsumierende angesprochen, die im Sortiment eine clevere Wahl treffen, Zertifikate erwerben – und akzeptieren, dass es dazu keine Alternative gibt (Schöni 2020, S. 54). Die Digitalisierung liefert dem Weiterbildungsmarketing heute zusätzliche Mittel, seine Effizienz und Reichweite zu steigern.

Höhere Effizienz versprechen etwa die Gewinnung von Massendaten im Internet, ihre Verdichtung zu Nutzerprofilen (Online-Profiling, Bernecker 2020), die personalisierte Kundenansprache, der digitale Vertrieb und die Leistungssteuerung mittels Learning Analytics. Produktmarketing wird so auch im Bildungsgeschäft zur Kernkompetenz erfolgreicher Anbieter. Diese sehen sich allerdings konfrontiert mit der Digitalwirtschaft, die Marketing als Geschäft betreibt und auf ihren Plattformen auch Lerninhalte und digitale Kurse vermarktet (Grotlüschen 2018; Schenkel 2019). Die Weiterbildung nutzt selber solche Technologien, um Lernprozesse zu unterstützen. Lässt sie sich jedoch in den Wettbewerb um digitale Marktpräsenz einspannen, so bindet sie Ressourcen, worunter ihre traditionell starken und direkten Bezüge zu Zielgruppen, Lernbedarfen und Lebenswelten leiden könnten. 

Gegen diese Diagnose liesse sich einwenden, Weiterbildungsmarketing helfe bloss, die Geschäftsbeziehung einzuleiten; anders als im Konsumgüterbereich müsse die Nutzerin, der Nutzer des Lernangebots dessen Gebrauchswert ohnehin selber erarbeiten, unterstützt durch Fachkräfte der Erwachsenenbildung. Aber gerade wenn man in dieser Weise eine Trennlinie zwischen der Welt der Vermarktung und jener des «realen» Bildungsgeschehens zieht, ist noch weniger auszuschliessen, dass Marketing mit digitalen Mitteln den Angebotsprozess der Bildung unterläuft. Denn es konstruiert Lernbedarfe aufgrund von verknüpften Massendaten und baut Lernkonzepte auf, statt Bedarfe nach den Standards der Erwachsenenbildung zusammen mit Zielgruppen zu erarbeiten (Schöni 2017, S. 65, 81). Der vollständige Angebotsprozess wird damit aber keineswegs überflüssig. 

Setzt die Branche gerade in der Krise voll auf Produktmarketing, herkömmliches wie digitales, so könnte das eine Normalisierung der Nachfrage sogar bremsen (vgl. Schöni 2020, S. 55). Denn ohne genaue Kenntnis der Lernbedarfe lassen sich Lernangebote nicht präzise ausrichten. Dies wäre aber nötig, um das Vertrauen der Nachfrageseite zu stärken. Zudem: Angebotsmarketing erschliesst Wachstumsmärkte bei spezialisierten Zielgruppen; es treibt damit aber die Segmentierung voran und gewährt Zugänge nur selektiv. So könnte Weiterbildung längerfristig jedoch jene Akzeptanz verlieren, die sie daraus zieht, dass sie sich in öffentlichen Diskursen als «zweite Chance für alle» präsentiert; d. h. als Möglichkeit, Abschlüsse auch nach bzw. ausserhalb der formalen Bildung zu erwerben. Für die Erholung der Branche wird es umso wichtiger sein, Lernbedarfe auch breiter Zielgruppen sorgfältig zu erfassen und Lernangebote punktgenau auf die Bewältigung von Problemen im Erwerbsalltag, in sozialen Beziehungsnetzen, in der Sorge- und Gemeinwesenarbeit auszurichten.

Ansatzpunkte und Vorgehen der Bedarfsabklärung in der Weiterbildung

Um den Weiterbildungsbedarf einer Zielgruppe zu kennen, reicht es nicht, ihre Produktpräferenzen abzufragen; genauso wenig reicht es für die Klärung des Lernbedarfs einer Einzelperson, wenn die Weiterbildungsberatung für sie bloss Orientierung am Markt schafft. Denn das gängige Angebot verdeckt unter Umständen «wie ein Stereotyp oder eine Zauberformel die Frage nach dem eigenen Bedarf» (Schlutz 2006, S. 45). Die Feststellung, Personen hätten diesen oder jenen Weiterbildungsbedarf, meint nicht einfach, dass sie ein Angebotsprogramm zu durchlaufen, ein Zertifikat zu erwerben hätten, um dann als kompetent zu gelten. Sondern dass sie mit Blick auf definierte Anforderungen und persönliche Ziele erweiterte Fähigkeiten benötigen, wofür Lernwege zu bestimmen sind, beinhaltend Unterricht, Training, begleitetes oder selbstständiges Lernen. Lernbedarf ist ein Spannungsverhältnis, eine Differenz, die auf Zielzustände verweist und die Frage aufwirft, wie die Differenz vermindert werden könnte. Die Frage ist vor der Konzeption neuer Angebote zu beantworten. 

Kern der Bedarfsabklärung ist der Soll-Ist-Vergleich, basierend auf zwei Fragekomplexen: 

  1. Was sollten Personen wissen und können (= Soll), wenn sie in einem persönlichen Interessengebiet, einer beruflichen Rolle, einer Funktion im Gemeinwesen tätig sein möchten? 
  2. Welche Kenntnisse und Fähigkeiten haben die Personen bereits (= Ist), und wo sehen sie Lücken und Ansatzpunkte für Weiterbildung, Lernen und persönliche Entwicklung? 

Was sie können möchten bzw. sollten, ergibt sich aus den Anforderungen im aktuellen oder künftigen Aktivitätsbereich. Was sie davon bereits beherrschen oder wofür sie gute Voraussetzungen haben, dies zeigt sich etwa in der Selbst- bzw. Fremdeinschätzung ihrer Kompetenzen und Erfahrungen. Beim Soll-Ist-Vergleich sind zahlreiche Einflussfaktoren zu berücksichtigen: etwa generationsspezifische Ansprüche an die Lebensgestaltung; Anforderungen und Trends im beruflichen, geschäftlichen oder zivilgesellschaftlichen Aktivitätsbereich; Bestimmungen regulativer Instanzen bezüglich Ausbildungsniveau, Arbeitssicherheit, Qualität, Rechenschaft usw.

Die Abklärung von Lernbedarf zielt gemäss Qualitätsstandards der Erwachsenenbildung immer auf die Gewinnung von Evidenz im Aktivitätsfeld. Gültige Normen für das Vorgehen sind etwa die internationale DIN 29990 für Lerndienstleistungen (vgl. Rau et al. 2011) und die schweizerische Qualitätsnorm eduQua (2021, Kriterium D1). Analoge Standards sind für sämtliche Bereiche und Stufen der nonformalen Bildung sinnvoll. Der Lernbedarf wird stets zusammen mit Zielgruppenangehörigen erarbeitet, wobei je nach Kontext und Abklärungstiefe die Informationen mehr oder minder detailliert ausfallen. Der Bildungsanbieter bzw. das Ausbildungspersonal lernt so das Spektrum der Bedarfsinhalte, Lernvoraussetzungen und Einflussfaktoren kennen, die in die Konzeption des Lernangebots einfliessen. Die Abklärung hilft zugleich, die einbezogenen Personengruppen in ihren soziokulturellen, beruflichen, politischen Milieus für Anliegen der Standortbestimmung und Entwicklungsplanung zu sensibilisieren. Je mehr sie über das Angebot Bescheid wissen, desto besser können sie das individuelle «Kaufrisiko» senken (Schlutz 2006, S. 38). 

Die dialogische Abklärung mit Hilfe von Selbst- und Fremdeinschätzung, strukturierten Gesprächen und Workshops ist aufschlussreich, da sie unterschiedliche Optiken abbildet und in späteren Entwicklungsphasen erneut eingesetzt werden kann. Sie lässt sich in der allgemeinen Weiterbildung (Schlutz 2006, S. 50 f.) genauso anwenden wie in der betrieblichen (Schöni 2001, S. 95 f.) oder in der Bildungsberatung. Die quantitative Analyse von Befragungsdaten, Branchenberichten, Marktstudien und Weiterbildungsstatistiken vervollständigt die Bedarfsabklärung und gibt Hinweise, wem das Angebotskonzept wie kommuniziert werden soll und mit welcher Nachfrage zu rechnen ist. 

Dringlichkeit und Perspektiven einer bedarfsorientierten Angebotsstrategie 

Während eine marktorientierte Strategie Bedarfe und Angebote konstruiert und zahlungsbereite Nachfrage sucht, geht die bedarfsorientierte, wie gezeigt, von den im Aktivitätsfeld ermittelten Lernbedarfen aus; sie ordnet sie nach Kompetenzkategorien und Zielen und konzipiert dazupassende Lernangebote und Dienstleistungen. Was keineswegs ausschliesst, dass sie dies vor dem Hintergrund eines bereits entwickelten Angebotsprofils tut; in diesem Falle klärt sie, inwieweit das Profil den Lernbedarfen im Aktivitätsfeld entspricht, welche Anpassungen nötig sind und welche Nachfrage zu erwarten ist. So wird sichergestellt, dass das Angebot, das vermarktet wird, nicht bloss verspricht, Lernbedürfnisse zu decken, sondern methodisch begründetes Potenzial hat, Fähigkeiten in der gewünschten Richtung zu stärken. Solche Fundierung ist gerade in Zeiten der Pandemiekrise und der Verunsicherung auf Seiten der Nachfrage unverzichtbar. Ohnehin wird es nicht einfach sein, Zielgruppen zu erreichen, deren Lernperspektive und Motivation in den Pandemiejahren unter Erwerbsunsicherheit, belastender Betreuungsarbeit oder sozialer Isolation gelitten haben. Da helfen Narrative, die den Nutzen individueller Bildungsanstrengung bloss beschwören, nicht weiter.

Anspruchsvoll ist insbesondere, Personengruppen anzusprechen, die schon bisher weniger an Weiterbildung teilnahmen und nun allenfalls vor neuen Erschwernissen stehen. Etwa prekär Beschäftigte mit provisorischem Aufenthaltsstatus, deren Zugang zu Weiterbildung als Folge pandemiebedingter staatlicher Einschränkungen und der Umstellung auf Online-Kurse erschwert wurde. Oder Personen, bei denen bis anhin eine Bedarfs- und Zielklärung weniger angezeigt schien, weil sie auf behördliche Anordnung an Programmen teilnehmen, etwa Arbeitslose, gesundheitlich Beeinträchtigte oder Asylsuchende. Bei diesen Gruppen gilt es neben Lernbedarfen auch Lernhindernisse und negative Lernerfahrungen zu kennen, um Zugänge zur Weiterbildung wiederherzustellen. Dafür eignen sich Ansätze aufsuchender Bedarfsermittlung in den Netzwerken des Alltags, in Beratungsstellen, Vereinen, Quartierzentren usw. (Mania 2021); ebenso Ansätze der arbeitsprozessbezogenen Bedarfsermittlung und Schulung in Betrieben, wie sie in Programmen zur Förderung von Grundkompetenzen Erwachsener exemplarisch erarbeitet wurden (Derendinger et al. 2015). Wichtig ist hier, in der Planung von Lernwegen Anschlüsse im System der nonformalen Bildung zu finden.

Solche Ansätze braucht es im Bereich der Grundkompetenzen Erwachsener, darüber hinaus aber auch für weitere Kompetenzbereiche, Qualifikationsstufen und Aktivitätsfelder. Je konsequenter die Angebotsentwicklung auf solider Lernbedarfsabklärung aufbaut, desto mehr entstehen daraus Impulse für das Weiterbildungssystem; etwa neue Erkenntnisse über Lernbedarfe in sozialen Problemlagen, über passende Kompetenzziele und Lernsettings. Es liessen sich zielgruppenspezifische Bildungswege entwerfen, die nicht an den Grenzen des Qualifikationssegments und der nonformalen Bildung enden. Immerhin spricht das schweizerische Weiterbildungsgesetz solche Perspektiven an unter dem Titel «Anrechnung von Bildungsleistungen an die formale Bildung» (WeBiG 2014, Art. 7). Die Branche wird diese Herausforderungen nicht allein bewältigen. Sie braucht eine Bildungspolitik, welche den Mechanismen der Segmentierung aktiver entgegensteuert und mehr Koordination und Kohärenz im Weiterbildungssystem realisiert. Und sie benötigt Unterstützung seitens der Weiterbildungsforschung, die systematischer als bisher Qualifikationstrends erforscht, Dateninfrastrukturen bereitstellt und die Praxis mit methodischen Hilfsmitteln ausstattet.

Literatur

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Hufer, Klaus-Peter (2021): Armut – (k)ein Thema der Erwachsenenbildung? In: Hessische Blätter für Volksbildung, Heft 4/2021, S. 21-30.

Käpplinger, Bernd (2020): Krise der Erwachsenenbildung in einer Gesellschaft des langen Lebens? Sondierung kontraintuitiver, dystopischer Szenarien. In: B. Schmidt-Hertha; E. Haberzeth & S. Hillmert (Hrsg.), Lebenslang lernen können. Gesellschaftliche Transformationen als Herausforderung für Bildung und Weiterbildung (S. 67-80). Bielefeld: W. Bertelsmann.

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Walter Schöni, Dr. phil., Soziologe mit den Schwerpunkten berufliche Weiterbildung, Personalentwicklung und Bildungsmanagement; Dozent und Berater. Kontakt: walterschoeni@bluewin.ch